In dieser beschleunigten und komplexen Wirtschafts- und Arbeitswelt sind Führungskräfte anders gefordert als noch vor wenigen Jahren. Sollen sie bei all der Unsicherheit doch selbst Orientierung entwickeln und anderen dieselbe geben. Führungswerkzeuge und -konzepte überschlagen sich nahezu dabei, sie darin zu unterstützen.
Bei allem Respekt für diese Arbeiten, auf die wir auch selbst zurückgreifen, fragen wir uns: Ist in dieser komplexen Welt nicht die einzige verlässliche Richtgröße unsere innere Orientierung, unser - wie sagt man so schön - "Bauchgefühl"? Was für den einen oder anderen vielleicht , "weich", beliebig oder trivial klingen mag, zeigt sich in der Praxis deutlich und präzise - wenn man einen Blick darauf wagt. Wir wagen darüber hinaus die These, dass ein Schlüssel zu mehr innerer Orientierung in der Verlangsamung (des eigenen Erlebens) liegen kann.
Orientierung in einer "neuen Welt"
Warum wird die innere Orientierung (und die Suche nach Orientierung im Außen beispielsweise in Form von Checklisten oder einfachen Führungsrezepten) abseits von bewährten Routinen immer wichtiger? Damit sich Unternehmen erfolgreich in ihrer hochkomplexen Umwelt bewegen können, müssen sie zumindest an einen Teil dieser Umweltkomplexität ankoppeln und ihn intern bearbeiten. Für den Alltag eines Managers kann dies bedeuten, dass er es nicht nur mit ständigen Anpassungen und komplexeren Beziehungsgeflechten zu tun bekommt. Er ist vor allem darin gefordert, ständig scheinbar Unvereinbares zu vereinbaren, beispielsweise sollen Produkte ohne Preissteigerungen kundenindividueller werden oder fundiert(er)e Entscheidungen schnell(er) getroffen werden. Statt um Kompliziertheit geht es um den Umgang mit Komplexität, Paradoxien und um echte Entscheidungen - solche Entscheidungen also, bei denen es für die ausgeschlossenen Alternativen genauso gute Gründe gegeben hätte. Standards, Algorithmen oder Fleiß greifen hier nicht.
Im Detail: eine beispielhafte Führungssituation
Der Chef ruft eilig sein Team zusammen, um es über den gewonnenen Großauftrag zu informieren und die nächsten Schritte zu planen. Er berichtet stolz von dem verhandelten Volumen und seinem Verhandlungsgeschick. Schon in dem Meeting ärgert er sich über seine Mitarbeiter, die sich (mal wieder) nicht von seinem Enthusiasmus anstecken lassen, sogar träge und demotiviert wirken. "Mit der Einstellung wird das aber nichts!" denkt er und plant vorsichtshalber lieber ein paar Meilensteine mehr ein. Auf den ersten Blick sieht das Ganze nach einem Motivationsproblem aus. Vielleicht macht eine entsprechende Teamentwicklung Sinn?
Und jetzt nochmal in Zeitlupe
Nehmen wir diese Situation unter die (Zeit-)Lupe, ergibt sich vielleicht ein anderes Bild: Was sich der Chef von seinem Team eigentlich erhofft hat, wäre ein deutliches Lob gewesen. Danach hungert er und sucht sich unbewusst immer wieder Situationen, die von ihm und seinem Team sehr viel abverlangen. Die Mitarbeiter spüren, dass Widerworte nicht angesagt sind. Oft genug hat sich die Umtriebigkeit des Chefs ja auch ausgezahlt. Sie kennen aber auch die andere Seite: Stress.
Sie geraten richtig unter Druck. Der Chef spürt ihre Vorbehalte (immerhin), reagiert darauf mit Enttäuschung, Wut und schließlich Kontrolle, denn sonst würde deutlich werden, dass er selbst voller Selbstkritik und -zweifel ist. Deshalb ist auch ein Misserfolg ausgeschlossen – egal, zu welchem Preis. Und weil er all dies ausblendet, kann er die eigenen Einwände, aber auch die Ideen und Erfahrungen der Mitarbeiter nicht für das Projekt nutzen. Das Scheitern wird wahrscheinlicher. Der Druck steigt. Die Abwärtsspirale hat längst begonnen, bevor auch nur ein Detail im strategischen Cockpit des Unternehmens sichtbar geworden ist.
Ein Ausweg?
Das kurze Beispiel haben wir auf der Grundlage des „Aua-ModeIIs“ von Klaus Eidenschink erfunden, für dessen ausführliche Diskussion hier der Platz fehlt (interessierte Leser werden aber beispielsweise unter metatheorie-der-veaenderung.info fündig). Statt uns in dieses tiefere Fahrwasser zu begeben, bleiben wir in Küstennähe: Mittlerweile wissen wir, dass nur ein kleiner Teil dessen, was jemand spürt und entscheidet, in der Alltagsgeschwindigkeit bewusst wird. Dies ist sicher funktional - würde alles bewusst, wären wir von der resultierenden Komplexität erschlagen. Allerdings verstellen die verborgenen Automatismen den Blick auf das ungetrübte innere Erleben, reduzieren innere Freiheitsgrade und nehmen dem "Bauchgefühl" einen Teil seiner Basis. Mitunter - und da folgen wir Klaus Eidenschink - resultieren dysfunktionale Verhaltensweisen in Führungsrollen genau daraus, dass der Manager mit einigen Teilen seines Innenlebens identifiziert ist, also Seelenteile ablehnt oder sie ihm gänzlich unzugänglich sind.
Wer Sich ein wenig darin übt, sich in seiner Umwelt zu betrachten, der kann womöglich einen Teil dieser Automatismen beobachten, sich bisher Unbewusstes bewusst machen oder sich von Kausalitäten zwischen den äußeren Umständen und den eigenen emotionalen Reaktionen ein Stück weit lösen. Dort, wo den eigenen Empfindungen Bedeutung und Raum gegeben wird, kann Orientierung entstehen. Kurz und provokant: Vielen Führungskräften (und ihren Ergebnissen) täte es gut, würden sie mehr beobachten und weniger tun.
Preise und Grenzen
Natürlich hat dies einen Preis. Man muss keine Meditationswoche in Indien erlebt haben, um verstehen zu können, dass diese Selbstbesinnung wenig Wohlfühlqualitäten verspricht. Gelingt das Vorhaben, ist damit zu rechnen, dass negativ besetzte Gefühle erlebt werden (müssen) und unbequeme innere Logiken deutlich werden.
Doch gibt es nicht allzu viel zu befürchten. Denn - um ein Bild unseres Kollegen Dr. Thomas Hoffmann zu bemühen - eine Hand kann alleine nicht klatschen. Schwierigkeiten, die im Miteinander in die Welt gekommen sind, brauchen in aller Regel ein Gegenüber auf Augenhöhe, damit Neues entstehen kann. Auch buddhistische Mönche wissen: Den Weg zur Erlösung muss jeder für sich gehen. aber er geht sich nicht alleine.
Dieser Beitrag wurde auch schon in der Ausgabe 4/2016 des RKW Magazins veröffentlicht.
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