Gelegen am äußersten nordöstlichen Rand Europas und mit einer äußerst wechselhaften Geschichte, die den 1,3 Millionen Einwohnern erst 1991 die Unabhängigkeit bescherte, ist es erstaunlich, welch rasante und wegweisende Entwicklung hin zu einem der globalen Vorreiter in Sachen Digitalisierung Estland in den letzten ca. 15 Jahren erlebt hat. Inzwischen gibt es in Estland eine vollständig digitalisierte und untereinander vernetzte Verwaltung, die es Einwohnern und Unternehmen erlaubt, sämtliche Prozesse online abzuwickeln. Beispielsweise werden Dokumente und Verträge ausschließlich digital unterschrieben. Auch das Finanz- und Gesundheitswesen des Landes sind vollständig digitalisiert und alle Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung sind mit Hilfe des Systems „X-Road“ miteinander verbunden. Lediglich Eheschließungen und der Erwerb von Immobilien verlangen (noch) eine persönliche Präsenz vor Ort.
Durch diese und viele weitere Maßnahmen werden nach eigenen Angaben jährlich 800 Jahre Arbeitszeit eingespart. Zukünftig soll insbesondere der internationale Datenaustausch vereinfacht werden, so dass Unternehmen einfacher und schneller grenzüberschreitend arbeiten können.
Die staatlichen Maßnahmen und Programme wirken sich auch auf das Gründerökosystem des Landes aus: Wenige andere Länder haben eine ähnliche hohe Quote von Startups pro Einwohner und einige der wegweisendsten Unternehmen haben ihren Ursprung in Estland (z. B. Skype). Unter dem Hashtag #EstonianMafia können auch Außenstehende auf Twitter das Geschehen im Land mitverfolgen.
- 2014 wurde die Estonian Entrepreneurship Growth Strategy2020 entwickelt. Sie ist der wichtigste strategische Maßnahmenplan für die estnische Wirtschaft für die Zeit bis zum Jahr 2020 und konzentriert sich auf drei große Herausforderungen, um den Wohlstand von Estland zu erhöhen:
- Steigerung der Produktivität,
- Förderung der unternehmerischen Tätigkeiten im Land,
- Förderung von Innovationen.
Ziel der Strategie war es, bis in das Jahr 2020 Estland innerhalb der baltischen Staaten, der nordischen Länder und des nordwestlichen Teils Russlands zu einem Zentrum für Startups zu machen und das Land damit auch attraktiver zu machen für die Entwicklungszentren europäischer Groß-Konzerne.
Nach diesem siebenjährigen Zeitraum sollte Estland eines der besten Länder der Welt sein, um ein Unternehmen zu gründen und zu entwickeln.
- Estland ist seit 2014 Mitglied der Gruppe Digital 5/D5. Die Gruppe besteht neben Estland aus Israel, Neuseeland, Südkorea und England und hat sich den Zielen verpflichtet, die digitale Wirtschaft zu stärken und durch die Anwendung von gemeinsamen Standards und open-source Software die Beziehung zwischen Regierung und Technologie zu verändern.
Themen der Arbeitsgruppe sind unter anderem Programmieren für Kinder, offene Märkte und Konnektivität.
- Für Nicht-Europäer besonders spannend dürfte das Programm „e-Residency“ sein: Digitale Bürger profitieren damit nicht nur von den digitalen Angeboten Estlands, sondern erhalten auch für ihre Unternehmen Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Schon ca. 27.000 Personen und über 4.000 Unternehmen konnte das Land so für sich gewinnen.
- Startup Estonia ist ein Projekt des Wirtschaftsministeriums und wurde bisher von zwei verschiedenen öffentlichen Organisationen umgesetzt: von 2011-2014 durch Enterprise Estonia und ab 2014 durch Estonian Development Fund. Die Organisation konzentriert sich auf die Schaffung eines starken Gründerökosystems. Statt direkte finanzielle Förderung zu vergeben hilft Startup Estonia dabei, qualitativ hochwertige Dienstleistungen für junge Unternehmen zu etablieren. Startup Estonia fokussiert sich dabei auf 4 Kernthemen:
- „Strong Ecosystem“: Entwicklung des Gründerökosystems
- „Smart People“: Verbesserung der unternehmerischen Fähigkeiten, z. B. durch speziell auf Startups ausgerichtete Trainingsprogramme sowie Entrepreneurship Education an Universitäten
- „Friendly Regulation“: gesetzliche Rahmenbedingungen, die Neu-Gründungen vereinfachen
- „Smart Money“: Finanzierung (Aufsetzen von Accelerator Funds sowie Unterstützung der Weiterentwicklung der Business Angels Szene).
Estland evaluiert alle im Rahmen von Startup Estonia umgesetzten Aktivitäten und sammelt Feedback, außerdem werden Startups, die an Trainings und Workshop teilgenommen haben, bei ihrer weiteren Entwicklung beobachtet. Die Organisation steht in ständigem Kontakt mit Partnern wie Inkubatoren, Acceleratoren, Hubs, Trainern, Mentoren etc. und kooperiert mit ihnen im Rahmen unterschiedlicher Projekte.
Startup Estland sucht proaktiv den Kontakt zu Gründern, um herauszufinden, an welchen Stellen des Gründerökosystems Handlungsbedarf herrscht und der Gesetzgeber aktiv werden muss.
Mit der Hilfe von Startup Estonia wurden drei Acceleratoren in Nischen-Branchen gestartet, darunter Gamefounders, der erste Online-Gaming-Accelerator in Europa.
- Im Schulwesen wurde das übergeordnete Thema „Technologie und Innovation“ etabliert. Damit soll erreicht werden, dass Lehrer mehr Technologie in ihrem Unterricht einsetzen – sei es im Mathematik-, Musik- oder Sprachunterricht. Die Art der Technologie wird nicht vorgegeben sondern obliegt den Präferenzen des jeweiligen Lehrers.
- Vorschul-Lehrer nutzen LEGO WeDo, Kodu Game Lab, spezielle Apps und Programme um Animation zu erstellen.
- In der Grundschule werden z.B. Kodu Game Lab, Logo MSW, Scratch, LEGO Mindstorms EV3 verwendet sowie ausgewählte Apps und Programme zur Vermittlung von Lehrinhalten der Fächer Musik, Mathematik, Physik und Biologie.
- In höheren Klassenstufen werden verschiedene Programmiersprachen unterrichtet (Python, JavaScript etc.), es wird mit 3D-Grafiken und Robotern gearbeitet und die Schüler haben die Möglichkeit, Spiele, Webseiten und Apps zu programmieren.
Darüber hinaus wird an ca. 70 % der estnischen Schulen als Ergänzung zum regulären Lehrplan die Arbeit mit Robotern, 3D-Grafiken, Informatik und Programmieren angeboten.
- Das Startup Visa Programm, das im Jahr 2017 etabliert wurde, richtet sich an Gründer mit innovativen und skalierbaren Geschäftsmodellen aus nicht-EU-Staaten, die gerne Teil der kleinen aber äußerst lebhaften Gründerszene Estlands werden wollen. Auch das Anwerben talentierter Mitarbeiter für bestehende Startups in Estland wird mit dem Visa Programm deutlich erleichtert.
- © Sonja Alt / Privat/Non-kommerziell – 201711Tallinn.jpg