Ist Deutschland wieder der „kranker Mann Europas“? Ein Überblick über die Situation im Mittelstand.
In der Öffentlichkeit wird gern von „multiplen Krisen“ gesprochen, wenn dargestellt werden soll, mit welchen Herausforderungen sich der Mittelstand aktuell auseinandersetzen muss. Und tatsächlich scheinen die mittelständischen Unternehmen seit Ausbruch der Corona-Pandemie permanent mit neuen Krisensituationen konfrontiert zu sein: Zunächst stiegen im Zuge des Überfalls Russlands auf die Ukraine die Energiepreise. Dann sorgte unter anderem die Bedrohung der Seewege durch die jemenitischen Huthis für fragile Lieferketten. Unabhängig davon stellt die „Twin Transformation“ die Unternehmen vor die Aufgabe, nachhaltiger und zugleich digitaler zu werden.
Mit welchen Herausforderungen die mittelständischen Unternehmen letztlich wirklich zu kämpfen haben, hängt vor allem vom Wirtschaftszweig ab, in dem sie beheimatet sind: So litten die Unternehmen der Reisebranche zwar während der Corona-Pandemie, aktuell profitieren sie dagegen vom Nachholbedürfnis ihrer Kundinnen und Kunden.
Auf die Rahmenbedingungen kommt es an
In den vergangenen und gegenwärtigen Krisensituationen zeigt sich aber auch, was den Mittelstand in Deutschland so stark macht: Aufgrund der Einheit von Eigentum und Leitung und der damit in der Regel einhergehenden flachen Unternehmensstruktur können die Unternehmerinnen und Unternehmer schneller und flexibler auf neue Herausforderungen reagieren als Konzerne. Voraussetzung hierfür sind jedoch Rahmenbedingungen, die den mittelständischen Unternehmen jeglicher Unternehmensgröße ermöglichen, flexibel zu reagieren und ihre eigenen Stärken im Wettbewerb auszuspielen. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Prinzipiell besteht sowohl in den managergeführten Unternehmen als auch im Mittelstand seit Jahren die Einsicht, dass es der ökologischen Transformation bedarf. Bei der Umsetzung konkreter Maßnahmen sind die Familienunternehmen jedoch deutlich aktiver, da sie im Gegensatz zu den angestellten Managern beispielsweise weniger auf Stakeholder achten müssen. Stattdessen sehen sie sich aufgrund ihrer regionalen Verwurzelung gegenüber ihrer Heimat und ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern in der Verantwortung. Daneben spielen allerdings auch extrinsische Motive wie die Kundenerwartung oder die Erfahrungen mit den Folgen der Klimaveränderung eine Rolle.
In den vergangenen Monaten haben jedoch der hohe Detaillierungsgrad und die stetig steigende Anzahl an Klimaregulierungen dazu geführt, dass die Unternehmerinnen und Unternehmer neue Vorgaben deutlich kritischer sehen. Schließlich stören ständig neue Regulierungen die Abläufe in den Unternehmen und binden durch die Beschäftigung mit den neuen Anforderungen Manpower. Besonders negativ bewerten die Unternehmerinnen und Unternehmer laut einer IfM-Befragung die steigende Anzahl an Zertifizierungspflichten, weil sie zu einer höheren bürokratischen Belastung führen. Auch sorgt das begrenzte Angebot an Zertifizierungsmöglichkeiten dafür, dass die Zertifizierungskosten steigen und sich weniger finanzkräftige Unternehmen nicht zertifizieren lassen können. Da bestimmte Zertifikate aber beispielsweise Grundvoraussetzung für den Zugang zu Fördermitteln sowie für die Bewerbung um Aufträge von öffentlichen oder privaten Großkunden sind, werden diese mittelständischen Unternehmen faktisch von der Marktteilnahme ausgeschlossen.
Um die prinzipiell positive Grundeinstellung der Familienunternehmerinnen und -unternehmer gegenüber der ökologischen Transformation zu fördern, sollten daher die klimafreundlichen Regulierungen auf möglichst wenige Instrumente mit möglichst großer Wirksamkeit, wie beispielsweise den EU-Emissionshandel, beschränkt werden. Wenig hilfreich sind hingegen sektorale und größenbezogene Unterstützungsmaßnahmen. Hierdurch wird lediglich das längst überholte Bild eines Mittelstands zementiert, der es aus eigener Kraft nicht schafft, herausfordernde Phasen wie die ökologische Transformation zu meistern. Die mittelständischen Unternehmen sind aber keine zu klein geratene Großunternehmen, deren Größennachteile man ausgleichen muss.
Warum der EU-Binnenmarkt so wichtig ist
Wie wichtig zuverlässige Rahmenbedingungen gerade in krisenhaften Zeiten sind, zeigt sich am Beispiel des europäischen Binnenmarkts: Während insbesondere der industrielle Mittelstand China aufgrund der aktuellen geopolitischen Krisen und Konflikte mit steigender Sorge betrachtet und andere asiatische Staaten und Nordamerika als mögliche Alternativen zur kommunistischen Volksrepublik in den Fokus nimmt, nutzen die mittelständischen Industrieunternehmen die Vorteile des gemeinsamen europäischen Markts, die er aufgrund seiner Größe, umfassenden Rechtssicherheit und der weitgehend harmonisierten Regelungen bietet. Insbesondere durch Letzteres sinken die Transaktionskosten der Handelsbeziehungen in der EU. Zugleich eröffnen sich den Unternehmen aufgrund von Fixkostendegressionseffekten Kosten- und Produktivitätsvorteile, da sie größere Mengen produzieren und in der europäischen Union absetzen können. Darüber hinaus tragen die harmonisierten Rahmenbedingungen des EU-Binnenmarkts dazu bei, die vielfältigen unternehmerischen (Ideen-)Potenziale in den EU-Mitgliedstaaten miteinander in Beziehung zu setzen. Dies fördert die Innovationsfähigkeit der Unternehmen, da sie gemeinsam bessere, innovativere Produkte und Dienstleistungen entwickeln können. Es wundert daher nicht, dass laut der jüngsten IfM-Befragung die mittelständischen Industrieunternehmen den europäischen Binnenmarkt sowohl im Hinblick auf Importe als auch bezüglich ihrer Exporte als den wichtigsten Markt bezeichnet haben.
Literatur & Links:
Pahnke, A.; Reiff, A.; Wolter, H.-J. (2023): Entwicklungstendenzen globaler Wertschöpfungsketten aus Sicht mittelständischer Unternehmen, IfM Bonn, IfM-Materialien Nr. 302, Bonn.
Rieger-Fels, M.; Schlepphorst, S.; Dienes, C.; Akalan, R.; Icks, A.; Wolter, H.-J. (2024): Die unternehmerische Akzeptanz von Klimaschutzregulierung, IfM Bonn, IfM-Materialien Nr. 305, Bonn.
Dieser Artikel wurde zuerst im RKW Magazin: "Flexibel ... und stabil?! mit dem Schwerpunkt: "Deutschlands Mittelstand" veröffentlicht. Dort haben Sie auch die Möglichkeit unser Magazin zu abonnieren. Alle Magazine finden Sie unter: https://www.rkw-kompetenzzentrum.de/das-rkw/rkw-magazin