Weil die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre nun nach und nach ins Rentenalter kommen, wird der deutsche Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2036 etwa zehn Millionen Arbeitskräfte verlieren. So viele wie noch nie zuvor in so kurzer Zeit. Und zu viele, um für ausreichend Arbeitskraftnachwuchs zu sorgen. Der Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte wird sich dementsprechend aller Wahrscheinlichkeit nach weiter verschärfen – und zwar in dem Maße, in dem die Anzahl der verfügbaren Arbeitskräfte schrumpft.

Fachkräftemangel eigentlich ein Produktivitätsproblem?

Der demografische Wandel ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die kaum noch wachsende Produktivität. Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass die Steigerung der Arbeitsproduktivität in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen hat. Dies gilt sowohl für Deutschland als auch für andere entwickelte  Volkswirtschaften. Wirtschaftliches Wachstum wird zunehmend durch mehr Arbeitskräfte erarbeitet. Eine endliche Strategie angesichts eines künftig abnehmenden Arbeitskräftepotenzials.

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz als Produktivitätshebel?

Die zunehmende Digitalisierung verspricht hingegen Produktivitätsgewinne. Laut aktueller Modellrechnungen von Prognos könnte eine stärkere Nutzung digitaler Lösungen den Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland bis 2035 um rund 1,5 Millionen senken.

Doch der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich solche Prognosen nicht immer erfüllen. Trotz der positiven Erwartungen haben die Digitalisierungsbemühungen der letzten Jahre nicht zu dem erhofften Anstieg der Produktivität geführt, zumindest bei Betrachtung der gesamten Volkswirtschaft. Die Wissenschaft sucht nach Erklärungen: Einige Effekte könnten sich noch verzögert einstellen, andere bleiben durch die Art der Messung unsichtbar. Ein weiterer Faktor könnte in der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors liegen. Dienstleistungen sind oft schwerer zu automatisieren als industrielle Prozesse. Zudem fehlen vielerorts bereits die notwendigen Kapazitäten, um nötige Veränderungen umzusetzen.

Für die Zukunft liegen die Hoffnungen mehr und mehr auf der Künstlichen Intelligenz (KI). Goldman Sachs erwartet etwa ein durch KI ausgelöstes jährliches Produktivitätswachstum von 1,5 Prozent im Laufe der nächsten 10 Jahre. Insbesondere in wissensintensiven Bereichen wie Kundenservice, Marketing und Vertrieb, Softwareentwicklung sowie Forschung und Entwicklung erscheinen durch generative KI Produktivitätssprünge für möglich. In solchen hochkomplexen und -bezahlten Aufgabenfeldern steigert sich bis 2030 laut McKinsey das theoretisch mögliche Automatisierungspotenzial gegenüber bisherigen Abschätzungen von 28 auf 57 Prozent aller Tätigkeiten.

Doch nicht alle Analysten teilen diese zuversichtlichen Erwartungen: So geht Daron Acemoglu, Professor für Angewandte Wirtschaftswissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT), in der kommenden Dekade für die USA von einer Steigerung der Gesamtfaktorproduktivität um maximal 0,53 Prozent aus. Befragungen von Deloitte wiederum deuten darauf hin, dass die Einführung von KI zwar die Personalbedarfe in einigen Bereichen senkt, sie in anderen Bereichen dafür erhöhen wird. Gleichzeitig erfordert ihr erfolgreicher Einsatz den Aufbau neuer Kompetenzen bei den Mitarbeitenden.

Der Blick in die Unternehmen

So sehr die gesamtgesellschaftlichen Prognosen noch einem Blick in die Glaskugel gleichen, zeigen innovative Unternehmen, wie Digitalisierung und KI konkret eingesetzt werden können, um den Fachkräftemangel zu entschärfen:

Eine zunehmend flexible Automatisierung in der Fertigung oder der Einsatz von KI in administrativen oder wissensintensiven Bereichen bieten neue Möglichkeiten, effizienter zu arbeiten. Neben der Automatisierung und Produktivitätssteigerung gibt es viele weitere Ansatzpunkte, wie Unternehmen durch Digitalisierung und KI unterstützt werden können. Sie können etwa durch die Übernahme schwerer oder unangenehmer Tätigkeiten helfen, die Arbeitgeberattraktivität zu steigern. Auch können neue Technologien Mitarbeitende unterstützen und dadurch die Fehlerquote senken. Wertvolles Erfahrungswissen ausscheidender Mitarbeitender kann im Unternehmen gehalten werden. Und durch mobile Arbeit etwa lassen sich unproduktive Fahrzeiten minimieren oder der Suchradius für Talente erweitern. Mit ihrer Hilfe lassen sich mitunter auch Qualifikationsvoraussetzungen so weit senken, dass neue Bewerbergruppen in den Blick genommen werden können.

Bei einem Softwarehaus beispielsweise wird bereits ein Großteil der wiederkehrenden Aufgaben von KI erledigt. Im Normalfall laufen diese Prozesse automatisiert ab. Nur bei kritischen Fällen schaltet die KI Mitarbeitende ein, erstellt eine Risikobewertung und unterstützt mit Entscheidungs- und Handlungshilfen. Dadurch steigert das Unternehmen nicht nur seine Arbeitgeberattraktivität, sondern kann heute auch weniger qualifizierte Quereinsteigerinnen und -einsteiger einsetzen und ist dadurch flexibler am Arbeitsmarkt.

Ein kunststoffverarbeitendes Unternehmen wiederum setzt auf Cobots. Roboter, die Hand in Hand mit den Mitarbeitenden arbeiten, und so die Belegschaft unterstützen und die Arbeitsbedingungen verbessern. Die Cobots erledigen dafür eine ganze Bandbreite an monotonen Aufgaben, beispielsweise das Verpacken von Produkten. Die Mitarbeitenden konzentrieren sich auf Tätigkeiten, die ihnen mehr Entscheidungsspielräume lassen und sie mehr fordern. Zudem konnte das Unternehmen so die Auslastung seiner Maschinen um fünf Prozent steigern.

Digitalisierung und KI ein Gamechanger im Fachkräftemangel?

Wie groß die Rolle ist, die Digitalisierung und der Einsatz von KI im Kampf gegen den Fachkräftemangel gesamtgesellschaftlich tatsächlich spielen werden, bleibt abzuwarten. Sicher ist aber, dass beides, geschickt genutzt, eine nicht unerhebliche Entlastung für Unternehmen darstellen kann. Dabei bieten Digitalisierung und KI vielfältige Chancen und Ansatzpunkte, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Um solche Potenziale allerdings nutzen zu können, ist es entscheidend, herauszufinden, wo die größtmöglichen Hebel für das eigene Unternehmen liegen. Damit die Maßnahmen ihre volle Wirkung entfalten und auch auf die Attraktivität der „realen“ Arbeitsplätze einzahlen, müssen die Mitarbeitenden die digitalen Lösungen jedoch „verstehen“ und als Bereicherung annehmen und einsetzen lernen.

Literatur & Links:

cemoglu, Daron (2024): The Simple Macroeconomics of AI

Deloitte (2024): Now decides next: Getting real about Generative AI, Deloitte’s State of Generative AI in the Enterprise Quarter two report

Goldman Sachs (2023): Generative AI: Hype, Or Truly Transformative?, Global Macro Research 120 

McKinsey Global Institute (2023): The economic potential of generative AI: The next productivity frontier

Prognos (2024): Potenzialindex Deutschland – Potenziale der Digitalisierung für Wirtschaft und Gesellschaft

Workbook „Neue Wege wagen im Fachkräftemangel“

Sie interessieren sich für weitere Praxisbeispiele aus dem deutschen Mittelstand und wollen selbst für sich auf die Suche nach neuen Lösungen gegen den Fachkräftemangel gehen? Das P³erspektive Personal Workbook des RKW Kompetenzzentrums unterstützt dabei, neue (Aus-)Wege aus dem Fachkräftemangel zu finden, und zwar auch über die Möglichkeiten „klassischer” Personalarbeit hinaus.
www.rkw.link/p3erspektive

Canvas „KI im Team“

Wer bereits mit dem Gedanken spielt, ein umfangreicheres KI-Vorhaben im Unternehmen einzuführen, für den könnte der neue Canvas des RKW Kompetenzzentrums „KI im Team“ interessant sein. Er unterstützt dabei, KI-Vorhaben gemeinsam mit Mitarbeitenden in einem Planspiel beispielhaft zu durchdenken oder konkrete Projekte zu planen.
https://www.rkw-kompetenzzentrum.de/2024/canvas-ki-im-team/

Dieser Artikel wurde zuerst im Investition Mensch – Transformation statt Resignation mit dem Schwerpunkt: "Fachkräftesicherung" veröffentlicht. Dort haben Sie auch die Möglichkeit unser Magazin zu abonnieren. Alle Magazine finden Sie unter: https://www.rkw-kompetenzzentrum.de/das-rkw/rkw-magazin