Reverse Engineering ist eine bewährte Methode, um bestehende Technologien zu analysieren und deren Funktionsweise zu verstehen. Dieser Ansatz wird oft genutzt, um für bestehende Produkte und Technologien neue Anwendungsfelder zu finden. Im Bereich des erfinderischen Problemlösens zielt die Methode TRIZ Reverse darauf ab, das Potenzial bestehender Erfindungen und Forschungsergebnisse voll auszuschöpfen, um neue Innovationen zu generieren. 

Was ist TRIZ Reverse?

TRIZ (Theorie des erfinderischen Problemlösens) ist eine etablierte Methodik zur Förderung kreativer Problemlösungsstrategien durch die Analyse und Anwendung von Patenten und Erfindungen. Während die Methoden des klassischen TRIZ seit mehr als 40 Jahren bekannt sind, ist die umgekehrte Vorgehensweise, d.h. „Von der Lösung zum Problem“, relativ wenig verbreitet. Dabei bietet sich die Nutzung der 40 Innovationsprinzipien sowie 39 Technischen Parameter geradezu an, um mittels analytischer Abstraktion neue Anwendungsfelder für bestehende Technologien zu finden.
TRIZ Reverse ist nicht nur nützlich für den Wissens- und Technologietransfer in forschungsintensiven Einrichtungen wie Hochschulen. In diesen Organisationen sind innovative Ideen und Erfindungen (Inventionen) zahlreich vorhanden. Der Engpass besteht häufig in der Übertragung der Forschungsergebnisse in nutzbringende Anwendungen (Innovationen). Bei Unternehmen ist es genau umgekehrt: Hier gibt es erfolgreiche Technologien, die in verschiedenen Produkten angewendet werden. Jedoch bleibt die Frage offen, ob wirklich das gesamte wirtschaftliche Potenzial ausgeschöpft worden ist. Um dies zu erreichen, greift TRIZ Reverse auf die fünf Lösungsschritte des klassischen TRIZ zurück und sucht gezielt nach neuen Anwendungsfeldern, d.h. reale Problem in anderen Märkten (Bild 1). 
 

Bild 1: TRIZ Reverse – Von der Lösung zum Problem (Vorgehensmodell)

Die fünf Schritte des TRIZ Reverse

An der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Dresden wurde im Rahmen von Validierungsprojekten ein 5-Schritte-Verfahren erprobt, welches die einfache und schnelle Anwendung von TRIZ Reverse erlaubt:

  1. Reale Lösung: Auswahl einer geeigneten Erfindung (Patent), das analysiert werden soll, basierend auf seinem wirtschaftlichen und technologischen Potenzial
  2. Abstrakte Lösung: Patentanalyse und Identifizierung relevanter Innovationsprinzipien unter Nutzung von Textmining (Voyant-Tools) und/ oder Generativer KI (ChatGPT)
  3. TRIZ Matrix: Rekonstruktion des gelösten (technischen) Konfliktes der Erfindung mithilfe der Technischen Parameter und Generierung eines Suchwort-Codes (Query) 
  4. Abstraktes Problem: Systematische Recherche in Patentdatenbanken (Patent Inspiration) unter Nutzung des Query, um Patente mit gleichem Problembezug zu finden
  5. Reales Problem: Nutzung der Analyseergebnisse (Patent Code Map) zur Ableitung neuer Anwendungsmöglichkeiten bzw. Marktpotenziale für die ursprüngliche Erfindung

Praktische Anwendung und Vorteile

TRIZ Reverse wurde erfolgreich in mehreren Projekten angewendet. Hier sind einige konkrete Anwendungsbeispiele, welche an der HTW Dresden – gemeinsam mit Forschungspartnern aus der Region – in den vergangenen drei Jahren umgesetzt wurden:

  1. Biokompatible Formteile aus Kollagen (DE102017123891A1): Ein Patent der HTW Dresden zur Herstellung von biokompatiblen Formteilen aus Kollagen wurde ursprünglich für medizinische Anwendungen wie Implantate entwickelt. Durch die Anwendung von TRIZ Reverse konnten neue Einsatzmöglichkeiten im Bereich der Konsumgüter- und Verpackungsindustrie identifiziert werden. In einem Validierungsprojekt wurden mehrere nachhaltige Lösungen entwickelt und getestet.
  2. Selbst-synchronisierbares Netzwerk (US10241539B2): Dieses Patent, das ursprünglich für die Automobilindustrie entwickelt wurde, ermöglicht die Synchronisation eines Netzwerks von miteinander verbundenen Knoten. Durch TRIZ Reverse wurde das Potenzial dieses Patents für Anwendungen im Bergbau und in der Erdbohrtechnik erkannt. Diese neuen Anwendungsfelder eröffnen innovative Möglichkeiten zur Verbesserung der Netzwerksynchronisation in extremen Umgebungen.
  3. Mechanischer Impuls zur Prozesswärmeerzeugung: Eine Erfindung des Fraunhofer-Instituts zur Erzeugung von Prozesswärme durch mechanische Impulse wurde ursprünglich für die Verbindung von Kunststofffolien entwickelt. TRIZ Reverse ermöglichte die Identifizierung neuer Anwendungsbereiche in der Textil- und Modeindustrie. Wie sich zeigte, könnte diese Technologie zukünftig einen wichtigen Beitrag liefern, um Kleidung energie- und ressourcenschonender herzustellen.

Die Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI)

Ein bedeutender Aspekt, der die Zukunft von TRIZ Reverse beeinflussen wird, ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz. KI kann die Patentrecherche und -analyse erheblich vereinfachen und beschleunigen. KI-Algorithmen können große Mengen an Patentdokumenten schnell analysieren und relevante Informationen extrahieren, wodurch der manuelle Aufwand reduziert wird. Machine Learning-Algorithmen können wiederkehrende Muster in Patentdaten erkennen und neue Anwendungsfelder identifizieren, was die Qualität und Genauigkeit der Ergebnisse verbessert.
In der praktischen Arbeit haben sich vor allem die generativen KI-Modelle wie ChatGPT bewährt. Unter Nutzung des kontextbezogenen Lernens lassen sich diese Modelle relativ einfach mit dem erforderlichen Wissen rund um TRIZ erweitern. Nach Bereitstellung der 40 Innovationsprinzipien erkannte ChatGPT 4.0 in einer Testsimulation mit einer hohen Treffsicherheit die in 10 beliebig aus-gewählten Patenten enthaltenen Prinzipien. Dadurch lässt sich der manuelle Aufwand zum Lesen und Verstehen von Patentschriften bzw. Erfindungsmeldungen erheblich reduzieren (Faktor 10).

Literatur & Link

Dewulf, S./ Günther, S./ Childs, P.R.N./ Mann, D. (2023): Opening up New Fields of Application with TRIZ Reverse, in: Cavallucci, D., Livotov, P., Brad, S. (eds): Towards AI-Aided Invention and Innova-tion. TFC 2023. IFIP Advances in Information and Communication Technology, Vol 682. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-031-42532-5_4

Autor

Prof. Dr. Swen Günther, Professur für Prozess- und Innovationsmanagement, HTW Dresden

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