Warum sich ein neuer Blick auf das Lernen in mittelständischen Unternehmen lohnt und was sich damit konkret anfangen lässt
Wir sind im letzten Jahr über eine kleine Artikelserie von Klaus Eidenschink gestolpert, der ein – sagen wir mal – unkonventionelles Verständnis von Lernen dargelegt hat. Ich bin mir gar nicht sicher, ob Klaus das so gemeint hat, aber wir haben dadurch angefangen, Veränderungsprozesse als Lerngeschehen zu verstehen und mit den Begrifflichkeiten des Lernens zufassen – und das über die Grenzen verschiedener Systemtypen hinweg. Seien es psychische Systeme, Teams oder ganze Organisationen: für uns macht diese Fassung von Lernen in all diesen Domänen großen Sinn.
Indem wir Lernen von seinem normativen Anstrich („die lernende Organisation“) entkleiden, eröffnet sich ein Blick auf Aspekte der Kompetenzentwicklung, die vorher selten im Fokus standen. In welcher Fachveröffentlichung haben wir vorher schon von Nicht-Lernen gelesen? Welcher Podcast beschäftigt sich mit Verlernen? Wo werden Preise oder Risiken des Lernens oder mögliche Nachteile in den Blick genommen? Nachdem wir begonnen haben, mit Beratenden und Führungskräften über diese Fassung des Lernens zu sprechen, haben wir eingangs viel Irritation, später dann Aha-Momente und einige Zustimmung geerntet, dass dieser Ansatz ausgesprochen praxisrelevant ist.
Der Weg zum Tun ist zu sein (Laotse)
Aber was steckt denn nun eigentlich dahinter? Bevor wir den Vorhang unwiderruflich lüften, muten wir Ihnen noch eine wichtige Unterscheidung zu, die (auch abseits des Lernens) für Entwicklungsprozesse wesentlich ist und immer wieder auftaucht: die Unterscheidung zwischen Handeln und Identität. Um nicht allzu tief und theoretisch in dieses Feld einzutauchen, beschränken wir uns zur Verdeutlichung auf einige Beobachtungen, die – so vermuten wir – jeder so oder so ähnlich aus seinem Alltag kennt. Ein Mensch, der gelernt hat, dass er jemand ist, mit dem es niemand zu tun haben möchte, wird handelnd kaum (unbefangen) Nähe initiieren. Ein Team, das sich zur Bewältigung einer neuen Herausforderung erheblich neue Handlungskompetenzen erarbeiten muss, ist hinterher ein anderes Team. Last but not least finden wir im Grunde in allen Strategieprozessen Ansätze und Schwerpunkte, die sich auf das Handeln (GANT-Diagramme, Maßnahmenpläne, …), und solche, die sich auf die Identität (Visionsarbeit, Purpose Driven Organizations oder sehr passgenau die strategische Identität von Wigand F. Große-Oetringhaus) beziehen. Lernen darf, kann und soll sich auf beide Aspekte – das Handeln und die Identität – beziehen: Je grundlegender neue Handlungsmöglichkeiten sind, umso mehr Konfliktpotenzial entsteht mit der bestehenden Identität. Am Beispiel: wer sich dabei selbst beobachtet, wie sie oder er erfolgreich Intimität anbahnt, kann sich kaum noch über eine längere Frist als jemand verstehen, mit der oder dem es niemand zu tun haben will.
Lernen, Nicht-Lernen, Verlernen
Wenn wir wiederum der Definition von Klaus Eidenschink folgen, dann verstehen wir Lernen in einer Weise, die simpel anmutet: Neue Möglichkeiten werden geschaffen, indem Vorhandenes ausgebaut oder Neues geschaffen wird. Daran scheint auf den ersten Blick vielleicht erst einmal nicht sehr viel neu zu sein, der Begriff „Möglichkeit“ scheint aber genau das zu treffen, worum es geht, ohne differenzieren zu müssen, ob das Ganze nun mit Wissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Sollen, Können, Dürfen und so weiter zu tun hat, was wir in gängigen Ansätzen zur Kompetenzentwicklung so finden. Wie oben schon ausgeführt, erlaubt uns diese Perspektive auch, Lernen auf verschiedene Systemarten zu beziehen: Unabhängig davon, ob wir über Organisationen, Teams oder Personen sprechen, alle können sich neue Möglichkeiten verschaffen. Und wir können fragen, was es für das Lernen von Menschen oder Teams in der Organisation bedeutet, wenn sich die Organisation neue Möglichkeitsräume erschließt, ohne mühsame Übersetzungsarbeit leisten zu müssen.
Das Nicht-Lernen wiederum bezeichnet das Auslassen einer Kompetenzentwicklung, also den mehr oder weniger bewussten Vorgang, Lernmöglichkeiten nicht zu ergreifen, kurz: man bleibt, wer man ist und tut weiterhin, was man kann. Der Wert dieses Auslassens wird schlagartig deutlich, wenn wir den Blick auf Organisationen mit ihren stets begrenzten Ressourcen richten. Eine attraktive Geschäftsmöglichkeit lässt doch beispielsweise kaum jemand gerne aus, entsprechend viel an „Verzettelung“ findet sich in mittelständischen Unternehmen (und natürlich anderen Organisationen).
Last but not least können wir das Verlernen als einen Vorgang beschreiben, der sich dadurch auszeichnet, dass man alte Möglichkeiten aufgibt, nach Neuen sucht und vielleicht sogar jemand anderes wird. Bevor das Neue zur Hand ist, begibt man sich sozusagen in einen Zustand von Inkompetenz. Jede Möglichkeit, die sich auf etwas wirklich Neues (und damit nicht nur auf die Erweiterung des Bestehenden) bezieht, setzt gewissermaßen dieses „Bad in Unsicherheit“ voraus. Komfortzone Adieu! Möglicherweise geht es nur mir so, aber wenn ich dem folge, büßt das Lernideal einiges an unreflektierter Attraktivität ein.
Auf die Zusammenhänge kommt es an: Strategieren und Kultivieren
Wenn wir die Strategieprozesse, die wir begleiten durften, aufrichtig befragen, lief es am Ende im Grunde immer auf die anspruchsvolle Entscheidung hinaus, mit welchen Möglichkeiten wie begonnen wird und welche ausgelassen werden. Dabei ging es im Grunde und im Kern fast immer um die Handlungsebene, selten um Identitätsprozesse. Somit können wir die Strategiearbeit in Unternehmen letztlich auf die Reflexion und Entscheidung reduzieren, wo auf der Handlungsebene gelernt und wo nicht gelernt wird: Was wollen wir (nicht) anfangen? Das Verlernen auf der Handlungsebene lässt sich natürlich auch bewusst aufgreifen, indem man mittels der Leitfrage „Was von all dem, was wir heute tun, würden wir nicht mehr neu beginnen, wenn wir es nicht schon täten?“ eine systematische Müllabfuhr betreibt oder im Zuge einer Prozessoptimierung scheinbar Überkommenes beiseitelässt, meist verblasst auf der Handlungsebene das, was nicht mehr gebraucht wird, allerdings einfach und unter der Hand – so unsere Beobachtung.
Anders verhält es sich, wenn wir die Handlungsebene verlassen und uns auf Identitätsprozesse (wiederum in mittelständischen Unternehmen) konzentrieren: hier spielt die Musik selten dort, wo man das pflegt, was einen schon ausmacht. Auch neue Identitätsaspekte können zumindest dort vergleichsweise leicht kultiviert werden, wo entsprechende Maßnahmen angestoßen sind: Wer wollen wir künftig sein und was tun wir dafür? Problematischer wird das Verlernen eingespielter und womöglich geschätzter Identitätselemente: Wer wollen oder können wir dann nicht mehr sein? Wer bislang als handwerklich-pragmatischer und qualitätsbewusster Problemlöser (in welcher Branche auch immer) in Erscheinung getreten ist und wo die Mitarbeitenden vielleicht voller Stolz darüber berichten, wird diese Identität nicht nur los, weil ein ERP-System eingeführt, eine Preisstrategie aufgerufen oder eine neue Geschäftsführerin mit anderen Vorstellungen bestellt ist.
Diese Identitätsprozesse manifestieren sich überwiegend in der informellen Seite der Organisation, so dass der beschriebene Sachverhalt nicht einfach entschieden werden kann – frei nach dem Motto: heute gehen wir als Problemlöser nach Hause und kommen morgen als Plattformbetreiber zurück. Hier hilft zunächst erst einmal keine Strategiearbeit im klassischen Sinne, die Einflussmöglichkeiten sind besser mit dem Begriff des Kultivierens zu fassen – eine kleine Websiteanpassung hier, eine neue Führungskraft dort, eine etwas geringere Priorisierung der „alten“ Projekte hier, mehr Attention für solche, die dem Neuen nahestehen, dort.
Was heißt das nun praktisch?
Für die Veränderungsarbeit in mittelständischen Unternehmen haben wir die beschriebenen Unterscheidungen in ein einfaches Tool gegossen, das wir Learning Canvas nennen wollen. Es hat uns in verschiedenen Settings gute Dienste geleistet, indem ein prägnanter Überblick darüber entsteht, wie das Heute in einer Veränderungsdynamik mit dem angestrebten Morgen in Verbindung steht.
Ausprobiert haben wir es in Beratungsprozessen, zur Auftragsklärung, aber auch als Ausgangspunkt für kollegiale Beratungen. Immer wieder waren wir verblüfft, wie einfach mit dem Tool gelingt, was über klassische Strategieansätze und -arbeiten erheblich länger dauert und uns viel mehr „Sortiererei“ abverlangt: Das Verstehen, worum es in einem konkreten Veränderungsprozess eigentlich geht, wo es knirscht und wo wie sinnvollerweise angesetzt werden kann, um eine „Verwicklung zu entwickeln“. Das Instrument ist darüber hinaus vergleichsweise intuitiv zu nutzen, was der Augenhöhe und dem Verstehen zwischen den beteiligten Personen zugutekommt.
Daher laden wir Sie gerne ein, unser Learning Canvas einmal auszuprobieren: Wählen Sie ein Veränderungsvorhaben oder einfach nur eine problematische Situation, die Sie interessiert, und füllen die Felder aus. Schauen Sie auf Zusammenhänge und suchen sich jemanden, mit der oder dem Sie Ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen diskutieren können. Wenn sie mögen, teilen Sie Ihre Erfahrungen auch gern mit uns.
Zum Ausgangspunkt zurück: warum Lernen riskant ist
Die eigentliche Crux mit dem Lernen besteht letztlich immer darin, dass niemand die Zukunft kennt. Das war selten so deutlich, wie in der heutigen Zeit. Jedes Lernen kann immer nur mit dem arbeiten was ist und war. Wir können uns Zukunft natürlich im Sinne von Mustererkennung erarbeiten, müssen aber eingestehen, dass diese Prognosen vorläufig sind und in gewisser Weise immer daneben liegen, mal mehr, mal weniger. Spätestens, wenn die neuen Möglichkeiten identitätsrelevant werden, lassen sie sich nicht mehr ohne weiteres abschütteln. Jeder, der in einer auf einen Zweck ausgerichteten Organisation versucht hat, den Zweck zu verändern, dürfte wissen, wovon wir reden. Daran lässt sich gemeinhin nicht viel ändern. Allerdings helfen Unsicherheitskompetenzen, verstanden als Vermögen, Unsicherheit neugierig erforschen zu können und Inkompetenz willkommen zu heißen, sehr dabei, von überkommenen Möglichkeiten Abstand nehmen zu können. In diesem Sinne: heißen Sie Unsicherheiten und die Chancen, die sich aus dem Verlernen ergeben, willkommen. Sie helfen beim Orientieren in einer unsteten und ungewissen Welt.
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