Thesen von Prof. Dr. Rudolf Wimmer zum Zusammenhang von Strategie und Umsetzung

1. Welche unternehmerische Herausforderung steht hinter diesem Spannungsfeld?

  • Unternehmen leben davon, dass es ihnen gelingt, für ganz spezifische Bedarfe ihrer Kunden Produkte und Dienstleistungen anzubieten, mit deren Hilfe die eigene Ertragskraft immer wieder aufs Neue erhalten und wenn möglich verbessert werden kann, um für die Bewältigung künftiger Investitionserfordernisse einen ausreichenden wirtschaftlichen Spielraum zu besitzen.
  • Mit dieser zentralen Überlebensbedingung ist für die Führung des Unternehmens eine doppelte Anforderung verbunden. Einerseits gilt es alle wertschöpfenden Prozesse konsequent am Kundennutzen auszurichten. Tag für Tag wird mit der Mobilisierung der Zahlungsbereitschaft der Kunden die wirtschaftliche Grundlage des Unternehmens verdient. Neben der Bewältigung dieser aktuellen Anforderungen im Tagesgeschäft, die normalerweise ohnehin alle Aufmerksamkeit im Unternehmen binden, braucht es aber auch ein Gespür dafür, was sich in den kommenden Jahren in den für das eigene Unternehmen relevanten Feldern ändern wird. Je turbulenter und ungewisser sich die Welt um einen herum entwickelt, umso weniger kann man davon ausgehen, dass die bisherigen Erfolgsmuster auch künftig das eigene Überleben noch sichern werden.
    Nur wenn für diese mehr oder weniger erwartbaren Entwicklungen in der Zukunft im Unternehmen geeignete Bilder erzeugt werden, können rechtzeitig die erforderlichen strategischen Weichenstellungen in Gang gesetzt und ein Prozess der vorausschauenden Selbsterneuerung am Leben erhalten werden.
  • Üblicherweise liegt die Verantwortung für eine gelingende Zukunftsausrichtung in solchen Unternehmen ausschließlich bei der Unternehmensspitze, das heißt beim Inhaber, beim Unternehmer. Erfolgreiche Unternehmer/Innen sind Persönlichkeiten, die über die Jahre ein untrügerisches Gespür für das Geschehen am Markt, für die Belange und Anliegen ihrer Kunden, für mögliche Neuerungen und im klugen Erfüllen der zugrundeliegenden Erwartungen entwickelt haben. Getragen von diesem intuitiven Wissen (ihrem unternehmerischen „Bauchgefühl“) können sie in ihren Unternehmen Impulse setzen, die mit den vorhandenen Bordmitteln zeitnah aufgegriffen werden und letztlich zu kundenadäquaten und gleichzeitig wirtschaftlich tragfähigen Lösungen führen. In diesem Wechselspiel zwischen der unternehmerischen Kraft der Spitze und dem kompetenten Umsetzen der von dort gesetzten Impulse im Rest des Unternehmens entwickeln sich solche Firmen oft in bewundernswerter Anpassungsfähigkeit an die sich ändernden Markt- und Kundenanforderungen. In der unternehmerischen Intuition erfolgt die Verbindung zwischen der Sicherstellung der Qualität des Tagesgeschäfts und den für die Zukunft wichtigen Neuerungen. Solange diese Treffsicherheit und spezifische Führungsqualität der Spitze erfolgreich in Wirksamkeit ist, braucht es in solchen Unternehmen keine expliziten Strategieanstrengungen.
  • Dieses Grundmuster unternehmerischer Zukunftsbewältigung hat allerdings seine Grenzen. Seine Funktionstüchtigkeit steht und fällt mit der unternehmerischen „Power der Spitze“. Die Erfahrungen der Praxis lehren uns, dass diese Power in der Schlussphase der Unternehmerlaufbahn oftmals zu schwinden beginnt. Die Treffsicherheit erfolgsverwöhnter Senioren geht tendenziell verloren. Sie hängen zu sehr am Bestehenden und verlieren ihre Sensibilität für den vom Markt kommenden Erneuerungsbedarf. Diese Tendenz an der Spitze führt Unternehmen nicht selten in eine strategische Krise, die ihre Ertragskraft schrittweise erodieren lässt.
  • Das angesprochene intuitive unternehmerbezogene Bewältigungsmuster von Zukunftsherausforderungen ist im Generationswechsel nicht ungebrochen auf die Nachfolger zu übertragen. Das implizite unternehmerische Wissen, der große Erfahrungsschatz der älteren Generation, ihre ungeheure Autorität in und außerhalb des Unternehmens ist letztlich nicht übertragbar. Deshalb eröffnet der Generationswechsel immer ein Zeitfenster, in dem für den Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen dem Druck des operativen Geschäfts und der Bewältigung von strategischen Herausforderungen andere Lösungen gefunden werden müssen, als die in der Vergangenheit praktizierten.
  • Eine häufig praktizierte Alternative besteht darin, sich externe Experten ins Haus zu holen, die einem sagen, worin der geeignetste Weg in eine erfolgreiche Zukunft zu sehen ist. Dieses Wegdelegieren der strategischen Verantwortung an externe Spezialisten ist für inhabergeführte Unternehmen in aller Regel nicht anschlussfähig und praktikabel.
  • Was sich demgegenüber anbietet, ist die Hereinnahme dieser strategischen Verantwortung in einen etwas größeren Kreis von Führungskräften und die Implementierung eines regelmäßigen Strategieentwicklungsprozesses. Dieser Prozess ist allerdings hoch anspruchsvoll, weil er für sein Gelingen zur Voraussetzung hat, dass es dieses Strategieteam miteinander schafft, Distanz zum Tagesgeschäft zu gewinnen und die für das gemeinsame Durcharbeiten der relevanten Strategiethemen erforderliche „Flughöhe“ im Diskussionsprozess zu halten. Schafft man diese charakteristische Arbeitsfähigkeit im Team, dann entstehen gemeinsame Bilder, was in der für das Unternehmen relevanten Welt los ist und mit welchem Seinszweck, mit welchem Leistungsangebot, mit welchem Geschäftsmodell sich das Unternehmen künftig positionieren will. Aus solchen Festlegungen entstehen dann in periodischen Abständen strategische Weichenstellungen, die das Unternehmen neben der Leistungsfähigkeit im Tagesgeschäft auch für künftige Chancen und Bedrohungen antwortfähig machen. Gelingt es, diese Art von Strategiefähigkeit in einem größeren Kreis von Verantwortungsträgern an der Spitze erfolgreich zu verankern, dann kann mit so einem expliziten, sich regelmäßig wiederholenden und sich dadurch immer wieder auf den neuesten Stand bringenden Prozess der Strategieentwicklung jene unternehmerische Erneuerungsfunktion erfüllt werden, die in der bisherigen Welt der klassische Unternehmer mit seiner Intuition, seinem „Bauchgefühlt“ wahrgenommen hat.

4. Was braucht es für den erfolgreichen Umgang mit erwartbaren disruptiven Entwicklungen?

  • Eine ganz besondere Herausforderung entsteht immer dann, wenn absehbar ist, dass das bisherige Geschäftsmodell erodiert und sich das Unternehmen in wesentlichen Aspekten ganz neu erfinden muss. Wir sehen solche Entwicklungen etwa in der Medienbranche, in Teilen des Handels, in der Musikindustrie, im Bereich der Telekommunikation. Solche Veränderungen werden zur Zeit unter dem Begriff der Ambitexterity (sprich Beidhändigkeit) diskutiert.
  • Gemeint ist damit die gleichzeitige Bewältigung einer zweifachen Veränderungsanforderung mit weitreichenden radikalen Konsequenzen. Auf der einen Seite gilt es das bestehende Geschäft (soweit überhaupt möglich) fit für die digitale Welt zu machen und dafür das Chancenpotenzial, das die aktuellen technologischen Innovationen eröffnen, gezielt zu nutzen. Auf der anderen Seite braucht es spezifische Organisationslösungen, in denen das ganz Neue entstehen kann (eigene Innovationszentren mit startupförmigen Arbeitsformen, Kooperationen mit ausgewählten Netzwerken und so weiter). Das Getrennthalten und gleichzeitig die produktive Verbindung dieser beiden Welten erzeugt ganz ungewöhnliche Führungsherausforderungen, auf die sich speziell das Topmangement in vielen Fällen erst einstellen muss.

Zum Autor

Prof. Dr. Rudolf Wimmer ist Professor für Führung und Organisation am Wittener Institut für Familienunternehmen an der Universität Witten/Herdecke und seit vielen Jahren Partner der osb Wien Consulting GmbH. Zu seinen Beratungsschwerpunkten der letzten Jahre gehören unter anderem die Unterstützung von Unternehmen in ihrer strategischen Neupositionierung; die Begleitung von Projekten zur Strategieimplementierung und die Konzeption und Realisierung von einschneidenden organisationsbezogenen Veränderungsvorhaben.

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