Business-Ökosysteme sind modern. Manche Autorinnen und Autoren gehen sogar so weit zu sagen, dass ihnen die Zukunft gehört und sie dem Organisationszeitalter und den Branchenstrukturen, so wie wir sie kennen, leise Goodbye sagen. Verstanden werden Business-Ökosysteme dann als orchestrierte Netzwerke von Unternehmen und anderen relevanten Akteuren rund um einen (möglichst weit gefassten) Kundennutzen. Die Beteiligten konzentrieren sich auf ihre jeweiligen Kernkompetenzen und machen im Verbund ein wettbewerbsfähigeres Angebot als sie es allein könnten. Dahinter steht die Neuauflage einer bereits seit längerem diskutierten soziologischen These: Netzwerke verzichten auf eine ausdifferenzierte Hierarchie und sind in der Lage, Kooperationen schnell und situativ je nach Anforderung auf- und abzubauen. Mitgliedschaftsbezüge sind loser gekoppelt: man arbeitet jeweils mit denjenigen, die für einen Job und die damit verbundene Rolle besonders gut zu passen scheinen. Filmproduktionen funktionieren beispielsweise schon lange nach diesem Strickmuster. Von dort kennen wir auch bereits die prekären und wenig berechenbaren Verhältnisse, die im Schatten dieser Kooperationsform entstehen können.

Unternehmensnetzwerke + VUCA + Digitalisierung = Business-Ökosysteme?

Diese Netzwerke treffen nun auf eine VUCA-Welt und treten dort quasi als Beweglichkeitsexpertinnen auf. Hinzu kommt: Die digitalisierungsbedingten Möglichkeiten senken Transaktionskosten für Kooperationen auch überregional erheblich. Es macht – so die Argumentation – kaum einen Unterschied, ob beispielsweise die Versicherung, Internetagenturen und Automobilhersteller im Nebengebäude oder Indien sitzen, um gemeinsam eine Mobilitätsplattform aufziehen zu können. In der analogen Welt sind solche netzwerkförmigen Kooperationsformen beispielsweise in Form von Weihnachts- oder Wochenmärkten seit langem etabliert. Dass eins plus eins auch drei sein kann, also der kooperative Kundennutzen größer ist als die Summe seiner Einzelteile, kennen wir auch bereits von dort. Eins ist klar: „Alles aus einer Hand“, „Komplett-Angebote“, „Rund-um-Sorglos-Pakete“ sind attraktiv – egal, ob für Privat- oder Firmenkunden, ob auf realen oder digitalen Marktplätzen. Und zumindest letztere sind immer leichter umsetzbar.

Ein weiterer Grund für uns, solche Netzwerke und kooperativen Geschäftsmodelle genauer anzuschauen sind die Erfahrungen in der Corona-Pandemie: #gemeinsamstatteinsam ist einer der einschlägigen Hashtags dieser Zeit. Ob lokaler Einzelhandel oder produzierende Unternehmen, die untereinander oder mit ihren Lieferanten, Banken, Kundinnen und Kunden enger zusammenrückten – gerade kleine und mittlere Unternehmen, die auch schon vor der Pandemie ihre Außenbeziehungen sehr ernst genommen haben, kamen leichter durch diese turbulenten Zeiten (vgl. RKW-Blitzumfrage 2020 / RKW-Interviewreihe #lernenausderkrise).

Gemeinsam lässt sich mehr erreichen – alles eine Frage der Perspektive

Wenn man den Begriff des Ökosystems an der Stelle ernst nimmt, dann könnten Business Ökosysteme auch einfach erstmal das Beziehungsgeflecht von Akteuren und Ressourcen rund um einen mehr oder weniger weit gefassten Kundennutzen beschreiben. Er bestimmt „das Feld“, das wir betrachten und es wird umso größer, je weniger wir uns an dem konkreten Produkt, der konkreten Lösung orientieren (siehe Abbildung). Wer etwa einen Weihnachtsmarkt besucht, hat selten einfach nur Lust auf gebrannte Mandeln. Erst das Gesamterlebnis mitsamt den Gerüchen, Klängen und Stimmungen rechtfertigt die Bezeichnung Weihnachtsmarkt, der eben mehr ist als die Summe aus Mandeln, Glühwein und Kinderkarussell. Und die Vielfalt, aus der eine neue Qualität entsteht, spricht nicht nur mehr Menschen an, sie ist auch weniger festgelegt auf einzelne Produkte und Leistungen. So muss sich der Vegetarier nicht von Bratwurst und die Antialkoholikerin nicht vom Glühwein abschrecken lassen. Vielmehr zählt das Gesamtgefüge und alle, die den Begriff „Weihnachtsmarkt“ hören, wissen worum es geht. Ähnlich verhält es sich mit „Alexa“ oder „TikTok“ aus der digitalen Welt. 

In diesem Raum gibt es zahlreiche Akteure, Beziehungen, Abhängigkeiten, Ressourcen, Bewegungen – wie auch in einem Ökosystem im biologischen Sinne. Seine Vernetzung und Komplexität zu betrachten und diese für das eigene Unternehmen und die Weiterentwicklung des Geschäftsmodells zu nutzen, macht in jedem Fall Sinn – egal, ob es nun in einem kooperativen Ansatz mündet oder nicht.

Gerade auch für Nachhaltigkeitsstrategien im Sinne einer Kreislaufwirtschaft ist das Business Ökosystem eine spannende Perspektive (mehr dazu im Artikel von Georg von der Ropp). Sie ist vor allem deshalb interessant, weil sie völlig neue Eindrücke ermöglicht: Wer sich am lösungsunabhängigen Kundennutzen orientiert, kann seine eigene Rolle im Wertschöpfungsgeflecht besser verstehen, seine Position im Wettbewerb besser greifen und gemeinsam mit anderen Angebote entwickeln, die robuster sind (der Weihnachtsmarkt schließt nicht, weil ein Wurstbudenbetreiber absagt), und anschlussfähiger an die vielfältigen Bedürfnislagen potenzieller Kundinnen und Kunden.

Solche Außenbeziehungen zu gestalten ist gar nicht so einfach: der Grat zwischen Kooperation und Wettbewerb ist oft schmal, die Sorge um Abhängigkeiten und Datensicherheit groß, es braucht viel Vertrauen und im Zweifel guten Rechtsbeistand. Alles ist in Bewegung, Akteure und Geschäftsmodelle kommen und gehen.

Bei der Frage, wie man solche Business Ökosysteme bestmöglich gestalten kann, hat die Permakultur unser Interesse geweckt. Hier wurde bereits viel Erfahrung damit gesammelt, natürliche Ökosysteme in der land- und forstwirtschaftlichen Realökonomie nachzuahmen. Vielleicht bieten die permakulturellen Handlungsprinzipien auch Hinweise für das Management von Unternehmen und kundenorientierten Unternehmensnetzwerken?

Permakultur: sanftes Kultivieren im Einklang mit dem Ungezähmten/Lebendigem

Die Permakultur – ein Kofferwort aus permanent und agriculture – geht auf Bill Mollison und David Holmgreen aus Australien und Masanobu Fukuoka aus Japan zurück. Das Vorbild natürlicher Ökosysteme soll dem Ansatz zufolge dazu führen, eine robuste, selbstgenügsame und ressourcenschonende Urproduktion zu ermöglichen. Vielfalt, Ressourcenschonung und die Berücksichtigung des Wilden und Ungezähmten, statt deren Ausschluss, stehen im Zentrum dieser Wirtschaftsform. In die natürlichen Prozesse wird vergleichsweise wenig eingegriffen, so dass ein vitales Boden- und Pflanzengleichgewicht entstehen kann, was der Widerstandsfähigkeit der Kulturen entgegenkommt. Die Vielfalt an Kulturen und Lebensformen, die in der industriell geprägten Landwirtschaft eher bekämpft wird, sorgt hier für Resilienz des Ökosystems. Schließlich kann ein Schädling, der die Monokultur kahlfressen würde, als einer von vielen in einer großen Vielfalt von Kulturen nur noch sehr wenig Schaden anrichten. 

Über Chancen und Risiken einer komplexitätsorientierten Kultur

Daneben sorgt diese Vielfalt aber auch für eine andere Form von Effizienz: Eine bestehende Weidefläche kann beispielsweise gleichzeitig mit einer Kuh- und Schafherde beweidet werden, da die beiden Konsumenten unterschiedliche Nischen besetzen, also unterschiedliche Graslängen bevorzugen. Dadurch wird wiederum ein nahezu doppeltes Volumen an Dung und damit für Pflanzen verwertbare Biomasse erzeugt. Auf diese Weise steigt die Komplexität des Systems, der Nutzen einer Einheit für andere und damit der Ertrag - allerdings weder schnell, noch so gezielt, wie wir es aus der konventionellen („leanen“) Landwirtschaft kennen. Die Herausforderung liegt bei einem in dieser Weise bewirtschafteten Biotop in der Bewältigung von Komplexität(skrisen): Hat ein abwechslungsreiches Gemüse- und Obstbaumwurzel-Buffet ein Biotop erst einmal attraktiv für Wühlmäuse gemacht, kann es dauern, bis sich Maulwurf oder Fuchs zur Mahlzeit einfinden. Daraus folgt eine akzeptierende Haltung den Systemelementen gegenüber – auch solchen, die erst einmal zu unerwünschten Effekten führen. Man setzt vielmehr auf positive Rückkopplungsschleifen: Anstatt einen Schädling mittels (von außen zugeführtem) Pestizid auszuschalten und damit Nützlinge und Bodengleichgewicht gleichermaßen zu schaden, nutzt man Destruenten für den gemeinten Schädling und integriert sie in somit in das Ökosystem: Laufente statt Schneckenkorn.

Was Unternehmensführung und Netzwerkmanagement aus der Permakultur lernen können

Die von David Holmgreen ausgearbeiteten Prinzipien der Permakultur sind empirisch fundiert, konkret und lesen sich für uns bereits wie eine Anleitung für die Gestaltung von Unternehmens- und Kooperationsprozessen. Wir interpretieren sie hier wirtschaftsnah auf der Basis unserer Erfahrungen mit der Praxis.  

  1. Beobachte und Interagiere – Triff Entscheidungen auf Grundlage fortlaufender und achtsam-selektiver Wahrnehmung dessen, was nicht dein Handlungsfokus ist. Akzeptiere, dass jedes Handeln einen Fehler produziert, der Input für dein weiteres Handeln ist. Die Welt ist Beziehung und nicht Schublade. Achte auf Zusammenhänge und den Nutzen jedes Elements für andere. Es gibt kein Ende und ausschließlich vorübergehende Ziele. Phasen kurzer Stabilität wechseln sich mit Phase langer und unberechenbarer Übergänge ab.
  2. Gewinne und speichere Energie – Der Begriff der Energie ist hier weitgefasst und nicht auf fossile oder erneuerbare Energiequellen im Sinne von Öl, Sonne oder Wind beschränkt. Bezogen auf einen organisationalen Kontext: nutze Bewegungen, Motivationen, Wissen und Erfahrungen von Mitarbeitenden, Kooperationspartnern und anderen Marktteilnehmern für Dein Ökosystem. Pflege Beziehungen und reinvestiere.
  3. Erwirtschafte einen Ertrag – Das Ziel Deines unternehmerischen Handelns ist Nutzen. Orientiere Dich daran und nicht an der Rendite. Andererseits: ein gutes Gefühl ist in einer verantwortungsvollen Wirtschaft nicht ausreichend. Von Idealen kann man nicht leben. Sie reduzieren vielmehr den Handlungsspielraum und trüben Deine Beobachtungen.
  4. Nutze Selbstorganisation und lerne aus Feedback – Je weniger Du in Unternehmensprozesse eingreifen musst, umso besser. Nutze Selbstregulationsprozesse und produktive Feedbackschleifen für den Gesamtnutzen des Systems. Zerstöre nicht mehr als nötig durch Eingriffe von außen. Lerne aus und mit dem System, indem Du die Folgen Deiner Handlungen für das Gesamtsystem sorgfältig auswertest.
  5. Nutze erneuerbare Energien und Ressourcen – Beute Dein Umfeld nicht aus. Irgendjemand wird die Zeche zahlen. Und Du riskierst ungünstige und (sich) erschöpfende Abhängigkeiten.
  6. Produziere keinen Abfall – Verzichte, vermindere, verwende wieder, repariere, recycle! Gestalte das Ökosystem, in dem Du dich so bewegst, dass möglichst wenig übrigbleibt, was keinen Nutzen für Dich oder andere hat.
  7. Gestalte Details ausgehend von Mustern – Erkenne Zusammenhänge und plane ausgehend von diesen Mustern. Handle dabei kleinschrittig an der Basis. Akzeptiere die Spannungen zwischen beiden Ebenen und passe Muster wie Handlungen an.
  8. Integriere statt auszugrenzen – Bevor Du etwas ausschließt, ausgrenzt oder loswirst, suche nach einem Nutzen (beispielsweise von zunächst befremdlichen Verhaltensmustern Deiner Lieferanten). Findest Du keinen, versuche einen zu schaffen. Damit schaffst Du zwar wieder ein Problem, das aber Deinem weiteren unternehmerischen Handeln eine Richtung geben kann. So sorgst Du für Effizienz und Resilienz gleichermaßen.
  9. Nutze kleine und langsame Lösungen – Behalte den Überblick darüber, wie sich Dein Unternehmen in seiner Umwelt bewegt. Handle behutsam und begreife, dass Effizienz nicht schlank bedeuten muss. Effizienz kann oftmals durch mehr Sättigung erreicht werden, indem Du ein System gestaltest, in dem sich aus einer Einheit viel Nutzen für andere Elemente erzielen lässt. Verbrenne kein Geld, keine Zeit und keine Energie – auch nicht von anderen.
  10. Nutze und schätze Vielfalt – Vielfalt mit hohem Synergiepotenzial bedeutet Resilienz.  Sie macht Dein System adaptiver und unterstützt langfristige Selbstorganisation, insofern Du sie unterstützt.
  11. Nutze Randzonen und Übergänge – Kontakt entsteht an der Grenze. Pflege diese Ränder. Sie machen Dich zu dem, der Du bist und verleihen Deiner Organisation oder Deinem Ökosystem eine Identität. Innovation entsteht meist in Übergängen (zwischen Unternehmensbereichen oder Organisationen). Erkenne den Nutzen von Pausen und „unternehmerischem Brachland“.
  12. Nutze und reagiere kreativ (auf) Veränderungen – Beobachte Veränderungen und kämpfe nicht gleich gegen sie. Schaue immer auch darauf, welche Chancen sich daraus ergeben. Probiere aus und vertraue darauf, dass das System unpassende Lösungen kreativ umnutzt oder ablehnt.

Über die Autor:innen:
Kathrin Großheim ist Referentin im RKW Kompetenzzentrum und unterstützt dort seit über zehn Jahren vor allem Innovations- und Strategieprozesse kleiner und mittlerer Unternehmen. Sie ist außerdem erfahrene Business Coachin (DBVC) und arbeitet mit Führungskräften an ihren professionellen und persönlichen Spielräumen. Kontakt: k.grossheim@rkw.de

Patrick Großheim ist Referent im RKW Kompetenzzentrum. Dort arbeitet er seit vielen Jahren im Feld der Organisationsentwicklung mitsamt allen dazugehörenden strategischen und personalwirtschaftlichen Fragestellungen. Patrick ist Coach (DBVC) und hat Freude dabei, Menschen und ihre Geschäfte in ihrem Wachstum zu begleiten. Kontakt: grossheim@rkw.de 

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Kathrin Großheim Digitalisierung & Innovation / Referentin

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Kathrin Großheim

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