Der Prozess der Digitalisierung lässt in Wirtschaft und Gesellschaft keinen Stein auf dem anderen. Diese Botschaft ist bei den allermeisten Unternehmen inzwischen mit aller Wucht angekommen. Sie haben die Suche nach geeigneten Antworten auf die damit einhergehende Veränderungsdynamik als DIE strategische Herausforderung der nächsten Jahre erkannt.
Worin besteht nun das Spezifische dieser unternehmerischen Herausforderungen?
Die bahnbrechenden technologischen Errungenschaften in der Datenspeicherung, der Datenverarbeitung und der Datenübertragung sowie in der computerbasierten Kommunikation und Vernetzung mit Hilfe des Internets befeuern eine Innovationsdynamik, die ganz außergewöhnliche und gleichzeitig höchst unterschiedliche Entwicklungsfelder stimuliert: Internet der Dinge, Big Data Analytics, künstliche Intelligenz, 3D-Druck, selbstlernende, untereinander kommunikationsfähige Softwarelösungen, immer leistungsfähigere mobile Endgeräte, neue Formen der Robotic, etc. Das Leistungsvermögen dieser technologischen Errungenschaften, auf denen die digitale Revolution mit all ihren Facetten letztlich beruht, wächst exponentiell (basierend auf dem Moore’schen Gesetz). Dies erklärt die disruptiven Verschiebungen, die wir schon seit geraumer Zeit in einigen Branchen beobachten können, beispielsweise in der Musikindustrie, Werbewirtschaft oder Tourismus- und Reisebranche.
Je stärker Unternehmen im Kern ihres Geschäfts auf der Generierung, Speicherung, Verarbeitung und Übermittlung von Daten und Informationen sowie auf primär wissensbasierten Prozessen beruhen, umso mehr sind sie in ihrer Existenz von diesem Tsunami betroffen. Daten bilden den alles entscheidenden Rohstoff im digitalen Zeitalter. Der Kampf um diese Rohstoffquellen ist längst entbrannt. Angeführt wird dieser Kampf von den Giganten der Internetwirtschaft, den Googles, Facebooks, Amazons und Alibabas dieser Welt. Die hier praktizierten Geschäftsmodelle begünstigen bislang nicht gekannte Monopol-bildungen, eine „the winner-takes-it-all-economy“, die für etablierte Unternehmen aus der „alten“ Welt radikal geänderte Wettbewerbsverhältnisse entstehen lässt.
Wir beobachten, dass eine Reihe großer Unternehmen inzwischen auch in Deutschland enorme Anstrengungen in die Wege geleitet hat, um sich für die digitale Welt fit zu machen. Dieses Bemühen sieht man an den wichtigen Playern der Automobilbranche (BMW, Daimler, Bosch, Continental, ZF), im Medienbereich (Springer, Burda), im Handel (Otto Group, Metro), im Softwarebereich (SAP, IBM), in der Halbleiterproduktion (Infineon). All diese Unternehmen nehmen zurzeit viel Geld in die Hand, um an ganz unterschiedlichen Stellen experimentierend herauszufinden, welche geänderten beziehungsweise welche ganz neuen geschäftlichen Aktivitäten in Zukunft das eigene Fortbestehen sichern könnten. Alle sind sie dabei noch heftig am Probieren. Niemand hat den Stein der Weisen bereits gefunden.
Was aber bedeuten all diese Entwicklungen speziell für familiengeführte mittelständische Unternehmen?
Ein erster wesentlicher Schritt besteht in diesem Zusammenhang immer in der Beantwortung der Frage: Besitzen wir an der Spitze des Unternehmens die erforderliche Urteilskraft, um die vielfältigen Implikationen, die die Digitalisierung für das eigene Unternehmen angesichts seiner bisherigen Geschichte, seiner aktuellen wirtschaftlichen Lage, seiner Wettbewerbsposition und strategischen Ausrichtung besitzt, realitätsgerecht einschätzen zu können? In den meisten Fällen ist dieses Urteilsvermögen in der Führung solcher Unternehmen aus verständlichen Gründen nicht vorhanden. Deshalb besteht eine erste Reaktion häufig darin, Lösungen bei der hauseigenen IT zu suchen oder externe Dienstleister mit deren Erarbeitung zu beauftragen. Beide Wege erweisen sich fast immer als Irrwege. Man verliert dabei viel Zeit und Geld, ohne ernsthaft schlauer geworden zu sein. Es führt kein Weg daran vorbei, sich im Topmanagement mit dem entsprechenden Know-how zu verstärken, weniger im rein technologischen Sinn, sondern vielmehr mit Blick auf die geschäftspolitischen Dimensionen des Digitalisierungsgeschehens. Erst dann macht es Sinn, sich maßgeschneidert für das eigene Unternehmen eine eigene „Digitalisierungsstrategie“ zu erarbeiten. Gemeint ist damit die sorgfältige Beantwortung der Frage: In welchen Aspekten unserer Unternehmensentwicklung sind wir durch das Digitalisierungsgeschehen potenziell berührt? Welche Chancen und Bedrohungen sind kurz- und mittelfristig mit diesem Berührtsein verbunden? Die Suche nach existenzsichernden Antworten auf diese Fragen ist keineswegs trivial. Sie bedeutet angesichts des enormen Lärms und des Alarmismus, der rund um das Digitalisierungsthema inzwischen entstanden ist, eine halbwegs klare Sicht auf die eigenen unternehmerischen Herausforderungen in diesem Zusammenhang zu gewinnen.
Wie findet sich aber nun eine solche Digitalisierungsstrategie und dementsprechend auch ein neues Geschäftsmodell?
Auf einer ganz allgemeinen Ebene kann man bei dieser Suche einerseits davon ausgehen, dass wesentliche Prozesse in der Erbringung des eigenen Leistungsspektrums massiv von der Digitalisierung tangiert werden – sei es unternehmensintern oder über alle Glieder der Wertschöpfungskette hinweg (den Lieferanten gegenüber, aber vor allem in Richtung der Kunden). Das reicht von einer nennenswerten Optimierung und Automatisierung des gesamten Produktionsgeschehens und aller Supply Chain Aktivitäten (Stichwort: Industrie 4.0) bis hin zu ganz neuen Formen der Kooperation und des Austauschs mit den Kunden.
Zum anderen tangiert die Digitalisierung natürlich auch das spezifische Wertangebot des Unternehmens an seine unterschiedlichen Kundenzielgruppen, also jenes Produkt- und Dienstleistungsspektrum, mit dem das Unternehmen im Verhältnis zu den Mitbewerbern seine unverwechselbare Position gewinnen und weiter ausbauen will. Mit der Digitalisierung rückt der Kundennutzen in einem sehr umfassenden Sinne ins Zentrum aller geschäftlichen Aktivitäten. Konsequent aus der Kundenperspektive heraus wird so das eigene Wertangebot konfiguriert und die dafür erforderlichen Geschäftsprozesse designt bzw. die notwendigen Ressourcen und Kompetenzen gebündelt. Auf diese Weise wird die Entwicklung des Unternehmens kompromisslos aus einer Outside-in-Perspektive steuerbar.
Letztlich sind all diese Elemente in ein Erlösmodell eingebettet, das die Ertragskraft des Unternehmens auf eine nachhaltige Weise sicherstellt. Diese Faktoren zusammen spiegeln in ihrer produktiven Wechselwirkung den Kern dessen, was man in der aktuellen Diskussion gerne mit dem Begriff des Geschäftsmodells bezeichnet.
Kommt man nun im Zuge der Entwicklung einer unternehmensspezifischen Digitalisierungsstrategie zu der Einsicht, dass das bislang erfolgreich praktizierte Geschäftsmodell zur Gänze beziehungsweise in wesentlichen Aspekten durch digitale Lösungen angegriffen wird, dann hilft ein Mehr-Desselben in der bisherigen Geschäftspolitik nicht viel weiter, um die eigene Zukunft unternehmerisch zu gewinnen. Die gewohnten inkrementellen Verbesserungen liefern dafür keine ausreichenden Antworten. Da braucht es sehr viel weitreichendere Innovationen. Wenn sich beispielsweise der „point of sale“ mehr und mehr ins Netz verlagert, wenn die Leute sich immer weniger über die gedruckte Version einer Zeitung informieren und die Werbebudgets gleichzeitig ins Netz abwandern, dann bekommen sowohl der Handel als auch die etablierten Zeitungsverlage ein existenzielles Problem. Ähnliches spielt sich gerade auch in vielen anderen Branchen ab.
Angesichts solch einschneidender Veränderungen ist die Entwicklung einer wohl durchdachten, für das jeweilige Unternehmen sorgfältig maßgeschneiderten Digitalisierungsstrategie immens erfolgskritisch. Eine solche Strategie benennt einerseits all jene Punkte, in denen sich das bestehende Geschäft weiterentwickeln muss, sie definiert aber auch die Suchrichtung, in der es grundlegendere Geschäftsmodellinnovationen braucht. Vielfach ist eine solch sorgfältig miteinander verbundene Doppelstrategie unverzichtbar, will man die Weiterentwicklung des Unternehmens in die digitale Welt hinein erfolgreich hinbekommen.
Am Ende des Tages kommt es jedoch darauf an, wie solche strategischen Festlegungen letztlich umgesetzt werden.
Dafür braucht es eine ungewöhnliche Investitionsbereitschaft und eng damit verknüpft eine ausgeklügelte Change-Architektur, die auf der Seite des bestehenden Geschäfts eine höhere Innovationskraft, mehr Agilität und Kundenzufriedenheit entstehen lässt, die aber auf der anderen Seite auch ganz eigene Organisationslösungen schafft, in denen das ganz Neue erfunden, ausprobiert und letztlich zur Marktreife gebracht werden kann. Solche „Innovationszentren“ folgen grundsätzlich eher einer Startup-Logik. Sie folgen einer „lean strategy“, d.h. in einem Prozess von Versuch und Irrtum entstehen prototypische Kundenlösungen, die in iterativen Rückkopplungsschleifen zeitnah getestet, verworfen, neuaufgelegt und kontinuierlich verbessert werden. Dabei helfen Big Data Analytics und kluge Algorithmen, die die Treffsicherheit solcher Innovationen mit der gebotenen Geschwindigkeit erhöhen helfen.
Die digitale Revolution zwingt unsere Unternehmen, ihr Geschäft in aller Konsequenz vom Kundennutzen her neu zu denken.
Solche Change-Architekturen, die die Gleichzeitigkeit ganz unterschiedlicher Veränderungs- und Innovationsprozesse und deren subtile Vernetzung zum Gegenstand haben, sind in ihrer praktischen Realisierung enorm anspruchsvoll. Sie benötigen eine von oben nach unten durchgängig abgestimmte Führungspraxis, die die vielen hier eingebauten Zielkonflikte und Widersprüche kontinuierlich in eine konstruktive Bearbeitung bringt. Gerade gut geführte mittelständische Familienunternehmen mit ihren kurzen Entscheidungswegen, mit ihrer konsequenten Umsetzungsorientierung müssen eigentlich in der Lage sein, solche hochkomplexen Veränderungsanforderungen gut zu stemmen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass an der Unternehmensspitze, im Kreis der ausschlaggebenden Schlüsselspieler der strategische Weitblick gemeinsam erarbeitet und die unbeugsame Entschlossenheit in der Realisierung des eingeschlagenen Weges im täglichen Miteinander fest verankert ist.
Der Autor:
Univ. Prof. Dr. Rudolf Wimmer ist Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen an der Universität Witten/Herdecke. Vizepräsident der Privaten Universität Witten/ Herdecke bis 2016. Aktuelle Forschungsschwerpunkte zu den künftigen Überlebensfragen von Familienunternehmen, insbesondere zu den speziellen Herausforderungen schnell wachsender Familienunternehmen. Zahlreiche Publikationen. Mitgründer der osb, Gesellschaft für systemische Organisationsberatung. Partner der osb international AG. Mitglied im Aufsichtsrat diverser Familienunternehmen in Deutschland und Österreich. Kontakt: Rudolf.Wimmer(at)osb-i.com
Diesen und weitere Artikel zum Thema finden Sie in unserer Publikation "Chefsachen" (Ausgabe 1/2018).
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