Seit der zweiten Jahreshälfte 2019 wird über Krise gesprochen - Eintrübung der Konjunktur, Rezession, Wirtschaftsflaute, Handelskonflikte. Jetzt ist mit Corona eine zusätzliche, globale Herausforderung dazugekommen. All das lässt sich mittlerweile in den volks- und betriebswirtschaftlichen Zahlen ablesen: Umsatzrückgang, steigende Arbeitslosigkeit, rückläufige Investitionsquote, schlechte Stimmung in den Märkten. Unternehmerisches Denken und Handeln bedeutet aber nicht (nur) die Diagnose einer schwierigen Situation, sondern die Entwicklung eines Zukunftsplans.
Die aktuelle Krise ist insofern speziell, weil sie medizinisch-viral verursacht ist. Das unterscheidet sie von ökonomischen, wie etwa die Finanzkrise 2008, oder politischen, wie etwa kriegerische Situationen. In der Geschichte stellt aber auch das keinen Ausnahmefall dar, wie die Epedemien des Mittelalters oder die Spanischen Grippe vor hundert Jahren belegen. Momentan überschlagen sich die Meldungen über den Einbruch der Wirtschaft und entsprechend fiskale Interventionen. Spricht das ifo Institut für Wirtschaftsforschung von einem Abschwung zwischen 2 und 6%, so erfolgt zeitgleich die Ankündigung der Europäischen Zentralbank zum Kauf von Staats- und Unternehmenswertpapieren im Ausmaß von 750 Milliarden Euro. Dies soll sicherstellen, dass die Zinsen niedrig bleiben und die Rezession abgefedert wird.
In Krisenzeiten können öffentliche Programme helfen, soziale Verwerfungen zu verhindern und die Gesellschaft stabil zu halten. Dies ist legitim und im Sinn einer funktionierenden Demokratie in einer freien Gesellschaft. Wir erleben momentan aber nicht nur eine schwierige Zeit, sondern auch das weitgehend reibungslose Funktionieren unserer Institutionen und ein Comeback solider bzw. sachlicher Politik. Und das ist mindestens genauso wichtig wie die Bekämpfung der Krise.
A. Krisen-Verständnis und Chancen-Perspektiven
Wir befinden uns inmitten einer spannenden Zeit, weil ein ökonomisches Gesetz nach wie vor gilt: Eine Volkswirtschaft und Unternehmen wandeln sich vor allem in Krisenzeiten und weniger in der Hochkonjunktur. Apple hat die Wende in einer Zeit der Flaute Ende der 1990er Jahre eingeleitet. Und seitdem es dem Unternehmen blendend geht, kommen keine durchschlagenden Innovationen mehr. Momentan wird viel darüber diskutiert, was die Krise ausgelöst hat. Viel interessanter ist aber die Frage, was die Krise auslösen wird: Und das ist ein System- und Strukturwandel, der seit Jahren überfällig ist. Stichworte hier sind Mobilität, Energie, Digitalisierung, Klima, Arbeitswelt, Diversität usw.
In diesem Zusammenhang werden wir genau beobachten müssen, wofür die Steuermilliarden jetzt verwendet werden. Kurzfristig Arbeitsplätze und Unternehmen zu retten, ist volkswirtschaftlich sinnvoll. Mittel- und längerfristig wird sich die Wirtschaft aber wandeln müssen, um zukunftsfähig zu sein. Ein Beispiel der jüngeren Vergangenheit: Die Unterstützung der deutschen Automobilindustrie in der Krise 2009 hat dazu geführt, dass es nach wie vor keinen Wandel in dieser Schlüsselbranche gibt. Der «kreative Umgang mit Diesel-Schadstoffwerten» hat in dieser Zeit begonnen. Und immer noch dominieren PS, Größe, Testosteron und Verbrennungsmotor. Jede Krise ist eine Chance für Veränderung; eine Krise ohne Veränderung wird Reformstau bzw. Probleme nur verlängern.
Jede Krise ist der Startpunkt für Chancen.
Bezeichnend ist auch die Begriffsgeschichte der «Krise». Die Bedeutung im Altgriechischen lautet «Entscheidung» bzw. «Wendepunkt». In der Medizin der frühen Neuzeit wird unter «Crisis» eine zumeist fieberhafte Erkrankung verstanden, die eine Krankheitsabwehr hervorruft, an deren Ende wieder ein gesunder Organismus steht. Es braucht kein sprachwissenschaftliches Studium, um die Parallelen zur heutigen Situation herzustellen. Jede Krise ist ein Wendepunkt zwischen der «Alten Welt» und der «Neuen Welt». Wer dieses tiefgreifende Veränderungsverständnis nicht hat, wird in der Zukunft nur die Vergangenheit sehen können.
Was bedeutet Krise aus Führungssicht? Im Kern ist es die Fähigkeit zur Reflexion, Chancen-Erkennung und Entscheidung. Genau das sind die Stichworte für echtes «Leadership» in schwierigen Zeiten. Sehen wir rechtzeitig neue Entwicklungen? Sind wir diesen vielleicht voraus? Nutzen wir die Lage für die Neugestaltung des Geschäftsmodells? Können wir diejenigen Themen angehen, die aufgrund des Tagesgeschäfts immer zurückgestellt wurden? Was stellen wir ab, weil es sich überholt hat? – Das sind die entscheidenden Fragen. In Zeiten stabiler Verhältnisse kann der Erfolg der Vergangenheit in die Zukunft fortgeschrieben werden, in der aktuellen Situation funktioniert das definitiv nicht mehr. Und eines ist auch klar: Es ist hochgradig gefährlich, sich ausschließlich auf öffentliche Programme zu verlassen. Diese können kurzfristig das Schlimmste verhindern; sie schaffen aber weder Wettbewerbsvorteile noch Innovationen.
B. Entwicklung der Chancen-Agenda
Kompetente Führung bedeutet, eine Krise als Startpunkt für die Gestaltung der Zukunft zu nutzen. Orientierung geben und Chancen entwickeln sind die aktuell wichtigsten Aufgaben für Aufsichts- und Exekutiv-Organe. Die Qualität der Führung zeigt sich in der Krise und nicht in der Hochkonjunktur. Ein altes Sprichwort sagt „Die Flut hebt jedes Wasserfahrzeug, auch den morschesten Kahn.“ Überspitzt war die Boomphase seit der Finanzkrise ein Schönwettersegeln unter idealen Bedingungen. Jetzt wird sich zeigen, welche Unternehmen auch in schwierigen Gewässern navigieren können.
Es gibt zwei Typen von Chancen: «Kurzstrecke» und «Langstrecke».
Die gegenwärtige Situation zeigt die Notwendigkeit auf, rasch wichtige Sofortmaßnahmen einzuleiten. Diese Initiativen bedeuten unternehmerisch nichts Anderes als «Kurzstrecke»: Anpassung der Ressourcen, Sicherstellung von Liquidität, Organisation des Tagesgeschäfts unter erschwerten Bedingungen… Gleichzeitig sollte aber auch ein Szenario für die Zukunft entwickelt werden, um neue Themenfelder anzugehen. Organisations-psychologisch ist gerade jetzt der Moment, wo viele grundsätzliche Diskussionen geführt werden können, weil die Menschen für Veränderungen sensibilisiert sind. Das ist die sogenannte «Langstrecke», d.h. die Identifikation von künftigen Schlüsselthemen, die nach der Krise umgesetzt werden. Die unternehmerische «Kurz- und Langstrecke» sind Quellen von Chancen und zeigen auf, ob Mitarbeiter und Führungskräfte nur Probleme in den Vordergrund stellen oder positiv und zukunftsgerichtet denken können. Natürlich müssen Schwierigkeiten offen angesprochen werden und wir alle erleben in Krisenzeiten auch eine psychische Belastung, die vor kurzem noch undenkbar war. Aber genau das ist der Punkt, an dem sich zwei Typen von Menschen zeigen: Die einen übersetzen «Krise» mit «Katastrophe», die anderen mit «Chance».
Wie funktioniert der Erarbeitungsprozess der Chancen-Agenda? Entlang der Themenfelder für Veränderungen (vgl. Abb. 1 und 2) wird als erstes die «Kurzstrecke» erarbeitet, d.h. Ausgangslage operative Sofortmaßnahmen. Zweitens werden langfristige Auswirkungen eingeschätzt und künftige strategische Schlüsselthemen definiert – die «Langstrecke». Gegenstand der Chancen-Agenda kann ein ganzes Unternehmen sein, aber auch einzelne Geschäftsfelder, Kundensegmente, Produktgruppen, Regionen, Funktionen usw. Im Erarbeitungsprozess bewährt es sich, fokussiert nur die wichtigsten Punkte anzusprechen und die Vorschläge zuzuspitzen: Ziel der Ausarbeitung ist nicht ein ausgewogenes Kompromisspapier, sondern die Identifikation von unternehmerischen Schlüsselthemen. Zu vermeiden sind langatmige Ausführungen, Erklärungen, Rechtfertigungen, Selbstverständlichkeiten und Allerwelt-Aussagen (Bsp. «Flexibilität erhöhen»).
C. Fazit
Auch, wenn es pathetisch klingt, so wird die Welt nach Corona wahrscheinlich eine andere sein als vorher. Diskussionen werden stattfinden können, die vorher für unmöglich gehalten wurden und Einstellungen werden sich wandeln, die zuvor noch als unveränderlich galten. Dies bezieht sich auf internationale Arbeitsteilung, Outsourcing, Kommunikation, Arbeitswelt, Motivation… Die aktuelle Krise wird zu einem Schwung an Innovationen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen führen.
Vieles ist unsicher – außer eines: nach der Krise steht Wachstum bevor.
In jedem Fall wird die Wirtschaft wieder wachsen und alle Unternehmen müssen sich, neben dem Krisenmodus, auch auf das kommende Wachstums-Szenario vorbereiten. So sehr die Sorge um Märkte und Liquidität momentan im Vordergrund steht, so sehr müssen sich Unternehmen auf die «post-corona-Welt» vorbereiten. Und das wird für die meisten eines bedeuten: Wachstum. Jede Krise bedeutet Unsicherheit, daher muss die Führung Orientierung geben und ein klares Signal für Zukunft setzen - vor allem auch, weil es keine Alternative dazu gibt. So wird aus einem Umbruch ein Aufbruch und aus einer Krise der Gegenwart eine Chance der Zukunft.
Das dargestellte Werkzeug "Chancen-Agenda" steht Ihnen hier als Word-Datei zum Download zur Verfügung.
Der Autor:
Prof. Dr. Roman Stöger ist Professor für Strategische Unternehmensführung an der University of Applied Sciences FH Kufstein Tirol. Darüber hinaus ist er in der Aufsicht internationaler, mittelständischer Unternehmen tätig und hat zahlreiche Bücher und Artikel zu den Themen Digitalisierung, Strategie, Innovation, Prozess- und Projektmanagement geschrieben.
Kontakt: Roman.Stoeger(at)fh-kufstein.ac.at, www.fh-kufstein.ac.at
Diesen und weitere Artikel zum Thema finden Sie in unserer Publikation "Chefsachen" (Ausgabe 2/2020).
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