Durch die Zeit der Pandemie bringen neue Formate der Kommunikation und der Zusammenarbeit die Möglichkeit des Perspektivwechsels. Und sie verlangen ihn auch. Innovative Formate stellen klassische Denk- und Verhaltensmuster auf den Kopf: Alles ein Märchen? Nein: Alles wie im Märchen!
Viele Bezüge lassen sich zwischen der Unternehmensentwicklung und der scheinbar wirtschaftsfremden Märchenwelt herstellen. Beispiele sind die Fähigkeit zur kreativen Problemlösung, die Bildung von Netzwerken und das soziale Bewusstsein der Hauptpersonen.
Im Märchen „Die weiße Schlange“ erlangt beispielsweise ein Diener durch das unerlaubte probieren eines Stücks einer weißen Schlange vom Teller seines Königs die Fähigkeit, die Sprache der Tiere zu verstehen. Tiere dienen in vielen Märchen als Gehilfen. Durch diese neue Gabe, Zusammenhänge in der Tierwelt zu verstehen, konnte der Diener an verschiedenen Stellen emotional intelligent handeln und Prüfungen bestehen. So rettete er drei Fische, die in einem Rohr gefangen waren und nach Wasser schnappend ihr Leid klagten. Diese versprachen Hilfe, die der Diener dann später, unverhofft, bei der Prüfung einen goldenen Ring aus dem Meer zu holen, bekam. So retteten die Fische dem Diener das Leben (Sanktion = Tod) und halfen ihm auf dem Weg zur Gratifikation (Heirat der Königstochter). Unterwegs trifft er weitere Tiere, mit denen er durch sein intelligentes emotionales Verhalten ein Netzwerk aufbaut und etabliert. Er bewältigt die ihm gestellten Prüfungen und kompensiert seine Schwächen durch das gesammelte Netzwerkkapital.
Sich gegenseitig unterstützen und gemeinsam wachsen – mit emotionaler Intelligenz Sozialkapital aufbauen wie die Grimmschen Märchenheldinnen und -helden bei ihren Abenteuern.
Es zeigen sich deutlich Analogien zur Unternehmensentwicklung: Das Suchen und Etablieren von Netzwerken hilft eigene Schwächen zu kompensieren und überrascht in oft unerwarteten Situationen – häufig zum Vorteil der Hauptfiguren. Eng verwoben damit sind die emotionale Intelligenz und die Fähigkeit mit Herausforderungen zu rechnen, um Gratifikationen zu erwerben. Über Netzwerke kann so Sozialkapital aufgebaut werden. Ergänzend zum Netzwerkkapital addieren sich im Verlauf der Geschichten meist ökonomisches Kapital (Gold, ½ Königreich, etc.) und kulturelles Kapital (z. B. Heirat der Königstochter). So werden Märchenheldinnen und-helden, die nicht zu den mental schlauen Hauptfiguren wie „Der gestiefelte Kater“ zählen, durch Zins und Zinseszins des Netzwerkkapitals unerwartet erfolgreich, indem sie emotional intelligent handeln.
Hier, sowie bei der kreativen Problemlösungskompetenz und der Lernkompetenz können Unternehmen von den Märchen lernen. In vielen Dingen unterscheiden sich Märchen aber auch von aktueller Unternehmensentwicklung – vor allem durch den zeitlichen Kontext, in dem sie entstanden sind. So setzt beispielsweise die Unternehmensführung heute mehr auf Commitment und weniger auf Sanktionen. Eine offene, integrierende und vertrauensbasierte Zusammenarbeit etabliert sich. Auch sind die im Märchen oft definierten Rollen überholt und verlangen divers gedacht und interpretiert zu werden.
Unternehmensführung – eine Heldenreise?!
In der GRIMMWELT Kassel erleben wir die oben dargestellten Gemeinsamkeiten sehr deutlich. Schließlich kommen hier die berühmten Märchensammler und Sprachforscher Jacob und Wilhelm Grimm in der Jetztzeit an: Künstlerisch, erlebnisorientiert und innovativ vermittelt das Ausstellungshaus seit 2015 ihr facettenreiches Werk sowie ihr gesellschaftliches und politisches Leben. Mit der bisher erfolgreichsten Ausstellung „FinsterWald“ schuf Kurator Mirko Zapp beispielsweise die immersive Komposition einer Heldenreise – ohne ein ganzes Märchen zu erzählen. Sie liefert zahlreiche Assoziationen und Bruchstücke von archetypischen Narrativen: Die Besucherinnen und Besucher konnten in Passagen aus den Grimmschen Märchen viele Abenteuer erleben und spannende Motive entdecken – immer mit viel Raum für eigene Interpretationen. So wurden sie Teil der „weißen Schlange“, fanden sich in der Dornenhecke wieder oder begegneten den unheimlichen Raben. Am Ende ihrer ganz eigenen Heldenreise lag dann zur Belohnung die „Magische Lichtung“.
Auf diesem Weg halfen ihnen Aspekte, die auch bei der Gestaltung einer gelingenden Unternehmensführung wichtig sind, zum Beispiel emotionale, soziale und praktische Intelligenz, kreative Problemlösungskompetenz sowie Mut. Die Hauptfiguren sind nicht überrascht, wenn sie in bedrohliche Prüfungssituationen geraten und versuchen, die jeweilige Gratifikation zu erreichen. Weniger wichtig sind in solchen Momenten das ökonomische und kulturelle Kapital, da diese Schwächen durch das Sozial- und Netzwerkkapital kompensiert werden können. Das klingt wie eine Übung zu moderner Unternehmensführung, oder?
Über die Autorin:
Manuela Greipel verantwortet das Projektmanagement der Ausstellungen in der GRIMMWELT Kassel und leitete dort im letzten Jahr kommissarisch den Bereich Presse/Öffentlichkeitsarbeit/Marketing. Ihr Hintergrund ist Visuelle Kommunikation, digitale Transformation, Design, Fundraising sowie Kultur- und Unternehmenskommunikation. Zudem erfüllt sie einen Lehrauftrag an der Hochschule Fulda. Kontakt: manuela.greipel(at)grimmwelt.de
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