„Barrierefrei“ ist mehr als „rolli-gerecht“ – Das Projekt „Barrierefreie Praxis“ in der Arztauskunft

Dr. Peter Müller

„Barrierefrei“ ist mehr als „rolli-gerecht“ - Das Projekt „Barrierefreie Praxis“ in der Arzt-Auskunft
Ebenerdige Zugänge, Lautsprecheransagen in Fahrstühlen oder höhenverstellbare Untersuchungsmöbel – diese und andere Vorkehrungen sorgen dafür, dass Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, Sehoder Hörbehinderung ohne fremde Hilfe zurechtkommen. Um das Bewusstsein über die Erfordernisse der Barrierefreiheit zu stärken, hat die Stiftung Gesundheit das Projekt „Barrierefreie Praxis“ ins Leben gerufen.

Unsere Erfahrung hat gezeigt: Bewusstsein und Wissen um die Erfordernisse der Barrierefreiheit in der ärztlichen Versorgung sind oft noch unzureichend – sowohl bei den Ärzten als auch den Praxismanagern. Rückmeldungen von Patienten sowie Gespräche mit Verbänden und Institutionen haben ergeben, dass die bisherige Abbildung der Informationen zur Barrierefreiheit drastisch unzureichend ist: unvollständig, nur regional bezogen und vor allem nicht differenziert. Es gab kein qualifiziertes Informationsangebot, das im Sinne der Inklusion allen Menschen einen gleichberechtigen Zugang zur ärztlichen Versorgung erlaubt. Dabei sind die gesetzlichen Krankenversicherungen qua Gesetz dazu verpflichtet, den barrierefreien Zugang zu Arztpraxen zu ermöglichen und auch ein entsprechendes Informationssystem vorzuhalten.

Im Jahr 1997 startete die Stiftung Gesundheit die ArztAuskunft. Die Arzt-Auskunft ist das detaillierte Verzeichnis aller niedergelassenen Ärzte, Zahnärzte, Psychologischen Psychotherapeuten, Kliniken, Notfalleinrichtungen und leitenden Klinikärzten in ganz Deutschland. Hier ist eine Suche anhand von über 1.000 Therapieschwerpunkten und Indikationen sowie vieler weiterer Tiefendetails möglich. Somit bildet die ArztAuskunft eine flächendeckende und bundesweit einheitliche Versorgungslandschaft ab.

Das Projekt „Barrierefreie Praxis“ ist das erste Projekt, das sich mit der Barrierefreiheit deutscher Arztpraxen auseinandersetzt. Es erweitert die Arzt-Auskunft um die detaillierten Informationen zu den einzelnen Komponenten der Barrierefreiheit bei allen niedergelassenen Ärzten, Zahnärzten und Psychologischen Psychotherapeuten. Gemeinsam mit den (ideellen) Projektpartnern – dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), dem Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit (BKB) sowie der Ärzte-Zeitung – haben wir im Jahr 2009 einen Katalog der Grade der Barrierefreiheit – von „ebenerdig oder Aufzug vorhanden“ bis hin zu „höhenverstellbare Untersuchungsmöbel“ – definiert. Darin sind auch die Vorkehrungen etwa zur Orientierung für Menschen mit Sehbehinderung sowie Gebärdensprache für Gehörlose berücksichtigt. 2010 haben wir bundesweit alle niedergelassenen Ärzte, Zahnärzte und Psychologischen Psychotherapeuten angeschrieben, sie informiert und ihnen die Relevanz sowie die Fakten erläutert. Anschließend haben wir die tatsächliche Lage, die vorhandenen Einrichtungen und die Grade der Barrierefreiheit in den einzelnen Praxen in der gesamten ambulanten ärztlichen Versorgung in Deutschland erhoben.

68.000 Ärzte haben Vorkehrungen getroffen

Das Ergebnis: Von allen 220.000 niedergelassenen Ärzten, Zahnärzten und Psychologischen Psychotherapeuten deutschlandweit bieten 68.000 in ihren Praxen eine oder mehrere Komponenten der Barrierefreiheit an. Viele zehntausend Ärzte wiesen darauf hin, dass keine Vorkehrungen zur Barrierefreiheit bestehen – auch das ist eine relevante Information. Häufigste Hürden sind bauliche Beschränkungen bis hin zum Denkmalschutz sowie die Kosten eines Ausbaus.

Alle diese Ärzte sind nicht nur anhand ihrer medizinischen Spezialisierungen oder den Sprechzeiten in der Arzt-Auskunft selektierbar, sondern nun auch auf Basis der dort vorhandenen Vorkehrungen zur Barrierefreiheit. (s. Abb. 3)

Diese Angaben finden sich in der Arzt-Auskunft und stehen seit März 2010 allen Menschen zur Verfügung – via kostenfreier Telefon-Rufnummer als akustisches Medium sowie im Internet unter www.arzt-auskunft.de als visuelle Zugangsmöglichkeit. Ebenso kooperiert die Stiftung Gesundheit unter anderem mit dem Internetportal des BMAS, www.einfach-teilhaben.de. Dort sowie auf zahlreichen anderen Portalen ist die Arzt-Auskunft integriert. So können sowohl Menschen ohne Behinderung als auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sowie Sehund Hörbehinderung und deren Angehörige diesen Service jederzeit nutzen. Denn „barrierefrei“ ist mehr als „rolli-gerecht“: Auch Eltern mit Kinderwagen, ältere Menschen mit Gehhilfen oder Menschen, die zum Beispiel durch einen Sportunfall kurzfristig in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, sind auf barrierefreie Angebote angewiesen.

In der Arzt-Auskunft können Behinderte und NichtBehinderte gleichermaßen nach den gewünschten Fachärzten suchen und genau angeben, welche Komponenten der Barrierefreiheit sie benötigen.

Nachhaltige Strategien zur Validierung sind nötig

Die Evaluation des Projekts hat bisher gezeigt, dass sowohl die Informationsdichte als auch die Validität der Angaben zur Barrierefreiheit erheblich verbessert werden konnten. Dadurch ist die eigentliche Lage der Barrierefreiheit in der ärztlichen Versorgung zwar noch nicht optimiert, aber die vorhandenen Möglichkeiten können identifiziert und genutzt werden.

Durch regelmäßige Abfragen bei Ärzten, Zahnärzten und Psychologischen Psychotherapeuten arbeiten wir ständig daran, Fehlerquoten zu minimieren und den Kenntnisstand sowie das Bewusstsein bezüglich Barrierefreiheit bei Ärzten und Praxispersonal in der Gesamtheit zu stärken. Zusätzlich sehen wir die Notwendigkeit, nachhaltige Strategien zur verbesserten Validierung der Informationen zur Barrierefreiheit zu entwickeln sowie Weiterbildungsangebote in den Bereichen Barrierefreiheit und Ambient Assisted Living (AAL) zu fördern. Menschen mit Behinderungen sollten an diesen Prozessen teilhaben.

Das Expertensystem „Praxis-Tool Barrierefreiheit“

In welcher Höhe ein Klingelknopf angebracht wird, spielt zunächst keine Rolle – die Kosten sind gleich. Für die Frage der Barrierefreiheit ist der Höhenunterschied jedoch enorm. Wenn Ärzte beginnen, sich mit den Vorschriften und Fördermöglichkeiten in Sachen Barrierefreiheit für ihre Praxis zu beschäftigen, ist die Lage alles andere als übersichtlich.

Pro Jahr werden in Deutschland im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung rund 10.000 neue Arztpraxen eröffnet, etwa 8.000 verlegen ihren Standort, weitere werden renoviert. Das entspricht neun Prozent der gesamten Ärzteschaft im ambulanten Sektor.

Zu diesem Zeitpunkt sind vom Arzt viele Entscheidungen über Zugangsmöglichkeiten, Beleuchtung Ausstattung etc. zu treffen. Die Barrierefreiheit einer Arztpraxis kann jetzt wirtschaftlicher als an jeder anderen Stelle verbessert werden.

Hier setzt die Stiftung Gesundheit an und entwickelt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) das Praxis-Tool Barrierefreiheit für Ärzte und Klinikleiter, um bereits in der Planungsphase von Neu-Niederlassungen, Praxisverlegungen oder auch bei Umbau-Arbeiten möglichst einfach viele Vorkehrungen zur Barrierefreiheit zu berücksichtigen.

Als interaktives Expertensystem erfragt das Praxis-Tool Barrierefreiheit individuelle Parameter, wie Region, medizinische Fachgruppe oder bauliche Voraussetzungen. Auf dieser Basis ermittelt das Expertensystem dann die relevanten Eckpunkte und liefert wertvolle Informationen, Ansprechpartner sowie Fördermöglichkeiten und Dienstleister. Es differenziert zum Beispiel verschiedene Optionen von „einfach umzusetzen“, wie Schilder oder Markierungen für Menschen mit Sehbehinderung, über „mittel“, wie ein abgesenkter Tresen, bis „aufwendig“, wie beispielsweise ein barrierefreies WC. So wird Ärzten die Entscheidung zugunsten von Vorkehrungen der Barrierefreiheit erleichtert und im Ergebnis gesellschaftliche Teilhabe und Inklusion verbessert.

Ausdrücklich vorgesehen ist die qualifizierte Zusammen - arbeit mit all den Gewerken, die bei Planung und Ausbau von Praxisräumen mitarbeiten: Deren Knowhow wird in das Projekt einfließen. So können durch eine kompetente und frühzeitige Beratung die Ausgaben für barrierefreie Vorkehrungen von vornherein gering gehalten oder sogar kostenneutral realisiert werden.

Internetangebote

Die Arzt-Auskunft der Stiftung Gesundheit: http://www.arzt-auskunft.de

Das Projekt „Barrierefreie Praxis“ in der Arzt-Auskunft: http://www.stiftung-gesundheit-foerdergemeinschaft.de/projekte-und-vorhaben/projekt-barrierefreie-praxis/

Kriterien zur Kennzeichnung barrierefreier Praxen: http://www.arzt-auskunft.de/arzt-service/barrierefreie-Praxis/kriterien.htm

Das Projekt „Praxis-Tool Barrierefreiheit“: http://www.stiftung-gesundheit-foerdergemeinschaft.de/projekte-und-vorhaben/praxis-bau-planer/

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): einfach teilhaben – Das Webportal für Menschen mit Behinderungen, ihre Angehörigen, Verwaltungen und Unternehmen: http://www.einfach-teilhaben.de

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