Wie man durch Experimentieren (Prototyping) lernt, mit Ungewissheit umzugehen

Die 17 Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (wie z. B. Nachhaltige/r Konsum und Produktion, Maßnahmen zum Klimaschutz vgl. BMZ 2015) verdeutlichen, dass wir global wie national vor vielen Herausforderungen stehen. Die Lösung dieser Probleme kann nicht durch die gleichen Herangehensweisen gelingen, wie die, die zu diesen Problemen geführt haben. Bildung ist ein zentraler Ansatz, um neue Lösungswege zu entwickeln. Daher stehen Bildungspolitik auf der Makroebene und Schulen auf der Mikroebene zunehmend vor Fragen, welche Schlüsselkompetenzen ausgebildet werden sollen, um die vielfältigen Herausforderungen in unterschiedlichen Lebenssituationen eigenverantwortlich bewältigen zu können. Aus diesem Grund hat sich die Europäische Kommission seit 2003 in mehreren Schlüsseldokumenten der Förderung von Unternehmertum (Entrepreneurship) und unternehmerischer Bildung (Entrepreneurship Education) angenommen (vgl. Europäische Kommission 2016: 36).

Doch was ist unternehmerische Bildung? Unternehmerische Bildung (Entrepreneurship Education) umfasst im engeren Sinne die Vermittlung von Fachwissen und Kompetenz, was für einen erfolgreichen Gründungsprozess sowie die darauffolgende Unternehmensführung erforderlich ist. Im weiteren Sinne werden unter Entrepreneurship Education alle Bildungsmaßnahmen zur Weckung unternehmerischer Einstellungen und Fertigkeiten verstanden (vgl. Wiepcke 2012: 90). Darunter wird ein Bündel von Prinzipien, Entscheidungslogiken und Techniken verstanden, das sich jeder zu einem gewissen Grad erschließen kann. Unternehmerische Bildung befähigt Schüler in allen Lebenslagen, kreativer, chancenorientierter, proaktiver und innovativer zu sein, d. h. unternehmerisch zu werden. Von diesen Bildungsprozessen profitieren auch Jugendliche, die sich nicht selbstständig machen, da es ihre Teilhabe z. B. durch Beschäftigungsfähigkeit steigert und Unternehmen hilft, innovativer zu sein. Doch wie funktioniert innovatives Denken in einer Welt, die ungewisser wird? Ein Ansatz dazu zeigt sich in der sogenannten Blue-Ocean-Strategie.

Die Blue-Ocean-Strategie

Die Blue-Ocean-Strategie beschäftigt sich mit disruptiven Verbesserungen von Produkten bzw. Produktideen. Disruption (= zerstören, unterbrechen) beschreibt einen Prozess, bei dem ein bestehendes Geschäftsmodell oder ein Markt von Innovationen abgelöst bzw. verdrängt wird. Die Blue-Ocean-Strategie unterteilt Märkte in Red Oceans und Blue Oceans. Im Folgenden werden die wichtigsten Entscheidungsmerkmale der beiden Strategien dargestellt und voneinander abgegrenzt.

MerkmaleRed-Ocean-AktivitätenBlue-Ocean-Aktivitäten
Wettbewerb Es herrscht eine starke Konkurrenz am Markt vor, die die Strategie der unternehmerischen Entscheidungen bestimmt. Die starke Fokussierung auf den Wettbewerb führt dazu, dass Unternehmen im Red Ocean bleiben. Sie konzentrieren sich auf den Wettbewerb und stellen nicht den Nutzen der Kundschaft ins Zentrum ihrer Strategie.Der Markt, an dem ein harter Wettbewerb herrscht, wird gemieden. Unternehmen fokussieren den Nutzengewinn der Kundschaft. Dies führt dazu, dass alle Fakten infrage gestellt werden, die beim Wettbewerb in einer Branche bedeutsam sind.
BranchenstrukturGründungen basieren auf der vorgegebenen Struktur einer Branche und jede Strategieplanung geht zunächst von einer Strukturanalyse der Branche aus.Es wird unterstellt, dass Unternehmen mit einer eigenen „richtigen“ Strategie Branchenstrukturen zu ihren Gunsten verändern und einen neuen Markt schaffen können.
Strategische KreativitätKreativität und Innovation werden als unbeeinflussbar erachtet. Aus diesem Grund konzentriert man sich bei der Strategieplanung darauf, die Wettbewerbsfähigkeit in bestehenden Märkten zu sichern.Innovation kann durch Kreativität systematisch mit Nutzen in Verbindung gebracht werden, sodass Branchengrenzen umstrukturiert werden können.
NachfrageUnternehmen versuchen ihren Marktanteil zu vergrößern, indem sie die vorhandene Kundschaft nutzen sowie aus dem gleichen Bereich neue hinzugewinnen.Unternehmen kümmern sich um Nichtkunden, um neue Nachfrage zu erschließen und zu nutzen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Blue Oceans zukünftige, noch zu schaffende Markträume umfassen, in denen Wettbewerb eine Zeit lang wenig Relevanz hat. Der Fokus liegt auf dem Aufbau von Nutzeninnovationen für die Kundschaft in neuen Markträumen. Dadurch erreichen Blue-Ocean-Produkte eine Differenzierung (Alleinstellungsmerkmale), sie sind zunächst wettbewerbsarm und erlauben hohe Gewinne (vgl. Kim/Mauborgne 2015).

Da sich die Blue-Ocean-Strategie auf zukünftige noch zu schaffende Markträume bezieht, werden Entscheidungen unter Ungewissheit getroffen. Unternehmer sind angehalten, mit ungewissen und unvorhersehbaren Situationen zurechtzukommen. Die Entscheidungslogik der Blue-Ocean-Strategie vernachlässigt das Element des Planbaren (anders als bei der Red-Ocean-Strategie) und setzt auf das pragmatisch Machbare. Das wissenschaftliche Interesse im Umgang mit Ungewissheit hat sich auch in der Gründungserziehung etabliert und ist unter dem psychologischen Konstrukt der Ambiguitätstoleranz bekannt (vgl. Mittelstädt 2017).

Ambiguitätstoleranz – der Umgang mit Ungewissheit

Ambiguitätstoleranz (Ungewissheitstoleranz) bedeutet, dass Personen mit widersprüchlichen, unstrukturierten, offenen und mehrdeutigen Situationen umgehen können. Sie befähigt Menschen, im Allgemeinen mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens zurechtzukommen. Sie können mit komplexen, mehrdeutigen, intransparenten Aufgaben, die sich nicht mit bewährten Handlungsstrategien lösen lassen, besser umgehen als Menschen mit schwacher Ambiguitätstoleranz. Gründende weisen zumeist ein höheres Maß an Ambiguitätstoleranz auf als andere Gruppen (Bijedic 2013: 229). Aus diesem Grund zählt sie zu den entscheidenden Kompetenzen von Unternehmern. Durch experimentelles Lernen, wie z. B. der Marshmallow-Challenge, kann die Ambiguitätstoleranz von Schülern gestärkt werden.

Die Marshmallow-Challenge

Die Marshmallow-Challenge (auch bekannt als Spaghetti-Turmbau) ist eine unterhaltsame und motivierende Übung, die die Lernenden zum Experimentieren anregt. Die Teams (3–5 Personen) bekommen 1 Meter Bindfaden, 1 Meter Klebeband, 1 Marshmallow, 20 Spaghetti und 1 Schere. Aus diesen Bestandteilen bauen sie in 18 Minuten einen möglichst hohen und frei stehenden Turm. Das Team mit dem höchsten Marshmallow über der Tischkante gewinnt. Dabei soll das Vorgehen der Teams bei der Planung und Umsetzung eingeschätzt, beurteilt und reflektiert werden (vgl. Uebernickel et al. 2015: 194).

Wujec (2010) untersuchte die Erfolgsrate bei unterschiedlichen Teams. Die höchsten Türme werden von Kindergartenkindern mit 75 cm Durchschnittshöhe gebaut. Topmanager bauen im Durchschnitt 60 cm hohe Türme. Die schlechtesten Türme werden von Wirtschaftsstudierenden mit einer Durchschnittshöhe von 25 cm gebaut. Wujec begründet die einzelnen Erfolgsquoten mit unterschiedlichen Herangehensweisen. Während die Kinder nicht diskutieren, sondern sofort losbauen, Baustrategien direkt ausprobieren, nachbessern und zerbrochene Spaghetti erneut einsetzen, erreichen sie am Ende stabile und hohe Türme. Die Wirtschaftsstudierenden dagegen diskutieren zuerst Baupläne und suchen nach „perfekten Lösungen“. Dadurch verlieren sie Zeit. Wenn sie am Ende der 18 Minuten das Marshmallow auf die Spitze setzen, bricht der Turm zusammen, es bleibt keine Zeit für einen erneuten Versuch. Die Strategie der Kinder wird auch als „Rapid Prototyping“ (schneller Modellbau) bezeichnet.

Mit dem Prototyping Annahmen testen

Das Herstellen von Prototypen hat sich im Rahmen von Design Thinking (vgl. Mittelstädt/Wiepcke 2018) etabliert. Durch das Herstellen von Prototypen im Zuge der Entwicklung einer Geschäftsidee werden neue Konzepte nicht lange und theoretisch diskutiert, sondern in Form von Prototypen gebaut und zügig in der Realität ausprobiert. Die gedanklich entwickelte Vorstellung der Idee wird in ein Modell überführt, das angesehen, angefasst und kommuniziert werden kann (vgl. Freudenthaler-Mayrhofer/Sposato 2017: 209). Ziel der Prototypen ist es, diese in der Praxis zu testen. Die Zielgruppe gibt dabei Rückmeldungen in Bezug auf die Stärken und Schwächen, sodass neue Erkenntnisse gewonnen werden. Getroffene Annahmen können so im Wochenoder Monatstakt in Form einer neuen Version am Markt bestätigt oder verworfen werden.

Wie man durch Experimentieren lernt, mit Ungewissheit umzugehen

Die Experimente zur Marshmallow-Challenge mit Kindern und BWL-Studierenden zeigen, dass Kinder beim Bau des Spaghetti-Turms nicht planerisch vorgehen und dadurch die höchsten und kreativsten Türme bauen. Sie stellen sich der ungewissen Situation, indem sie sofort losbauen (einen ersten Prototypen erstellen), ausprobieren (Annahmen testen) und nachbessern (den Prototypen schrittweise anpassen). Die Kinder nutzen das Rapid Prototyping, das wichtig für die Umsetzung einer Blue-Ocean-Strategie ist. Durch das Experimentieren kann auf die Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung der Lernenden Einfluss genommen werden. Das entdeckende und handlungsorientierte Lernen erlaubt es, dass sie sowohl ökonomische Entscheidungsverfahren anwenden als auch deren Grenzen erfahren. Die Marshmallow-Challenge setzt voraus, dass die Lernenden die Fähigkeit entwickeln, die gestellten Anforderungen zu erkennen und neue Möglichkeiten der Herangehensweise nutzen. Dadurch werden sie befähigt, erlernte ökonomische Strukturen auf andere ökonomische Situationen wie z. B. unternehmerische Strategien anzuwenden (vgl. Schlösser/Schuhen 2011: 60).

Literaturverzeichnis

Bijedic, Teita (2013):
Entwicklung unternehmerischer Persönlichkeit im Rahmen einer Entrepreneurship Education, München. Rainer Hamp Verlag.

BMZ (2015) (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung):
Agenda 30 – 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung.

Europäische Kommission (2013):
Aktionsplan Unternehmertum 2020 – Den Unternehmergeist in Europa neu entfachen, Brüssel.

Europäische Kommission (2016):
Entrepreneurship Education at School in Europe, Brüssel.

Freudenthaler-Mayrhofer, Daniela/Sposato, Teresa (2017):
Corporate Design Thinking – Wie Unternehmen ihre Innovationen erfolgreich gestalten, Berlin.

Kim, W. Chan/Mauborgne, Renée (2015):
Der Blaue Ozean als Strategie, München. Hanser.

Mittelstädt, Ewald (2017):
Ambiguitätstoleranz. Warum es sich lohnt, zu lernen mit Ungewissheit umzugehen; in: RKW Magazin 3/2017.

Mittelstädt, Ewald/Wiepcke, Claudia (2018):
Design Thinking; in: Unterricht Wirtschaft/Politik 2018/4.

Schlösser, Jürgen/Schuhen, Michael (2011):
Mit ökonomischen Experimenten Wirtschaft erleben; in: Retzmann, Thomas (Hg.): Methodentraining für den Ökonomieunterricht II. Schwalbach/Ts., S. 57–74.

Wiepcke, Claudia (2012):
Gründungserziehung; in: May, Hermann/Wiepcke, Claudia (Hg.): Lexikon der ökonomischen Bildung, München, S. 61–64.

Wujec, Tom (2010):
TED Talks. Online: www.ted.com/talks/tom_wujec_build_a_tower?language=de, 20.07.2018.