Emotionskompetenz

Diese Kompetenz ermöglicht …

  • gelassener mit Stress und Druck umzugehen und dabei handlungsfähig zu bleiben.
  • sich in der Konfrontation mit anderen oder in hektischen Situationen nicht zu „verrennen“.
  • die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden zu erhalten.
  • authentisch und präsent zu bleiben.
  • die eigenen Potenziale zu nutzen.

Typische Erfahrung:

„Wenn es mal für mich eng wird, bleibe ich unter meinen Möglichkeiten.“

Neue Haltung:

„Von der Abwehr und dem Nicht-haben-Wollen unliebsamer Gefühle hin zum neugierigen und staunenden Annehmen“

Was ist Emotionskompetenz und wofür ist sie hilfreich?

Meistens befinden wir uns in unserer Mitte. In diesem Zustand haben wir einen sicheren Zugriff auf unsere Fähigkeiten, verfügen über ein gutes Urteilsvermögen, kommen mit unseren Mitmenschen zurecht und erleben ein akzeptables Wohlbefinden. Dieser Zustand ist optimal, um Probleme zu lösen und neue Herausforderungen im Alltag zu bewältigen. In gewissen Situationen oder durch äußere Ereignisse ausgelöst können wir dieses Wohlbefinden und diese Mitte jedoch verlieren. Wir kippen dann in einen anderen Zustand – meist unangenehmer und ungewollter Natur. Hier verringert sich unser Wohlbefinden, unsere Handlungsfähigkeit sowie unser Urteilsvermögen und unsere soziale Interaktionsfähigkeit.

Unser beruflicher Alltag ist für viele von uns anspruchsvoll. Damit kann einhergehen, dass wir mit großem Druck, Konflikten oder eigenen und fremden Ansprüchen konfrontiert sind. Wohlbekannte Beispiele sind Prüfungsangst oder ein bevorstehendes unangenehmes Gespräch. Belastende Situationen, die mehr oder weniger starke Gefühle wie Unsicherheit, Angst, Wut, Ungeduld oder Verzweiflung in uns hervorbringen. Manchmal sind sie groß und vereinnahmend und manchmal registrieren wir sie im hektischen Alltag kaum. Beide Ausdrucksformen der Gefühle (stark und weniger bis kaum wahrnehmbar) haben jedoch eines gemeinsam: Sie beeinflussen und steuern unser Urteilsvermögen und unseren Handlungsspielraum.

Da es im beruflichen Alltag viele solcher Situationen gibt, die uns regelrecht aus unserer Mitte bringen können, hat es Bedeutung, zu lernen, wie sich in der Praxis damit umgehen lässt. Gerade wenn das Arbeitsumfeld anspruchsvoll ist, die zu bewältigende Thematik komplex erscheint oder wir vielen Impulsen ausgesetzt sind, gewinnt diese Fähigkeit an Bedeutung. Schließlich müssen Lösungen gefunden, Entscheidungen getroffen, Gespräche geführt, Geschäfte gemanagt oder produktive Arbeitsbeziehungen gestaltet werden. All dies erfordert unser volles Handlungsspektrum. Bleiben wir jedoch zu lange außerhalb unserer Mitte, kann dies die Leistung und die Ergebnisse sowie auf Dauer auch unsere Gesundheit beeinträchtigen.

Üblicherweise sind wir gewohnt, zu „funktionieren“ und Gefühlen im Berufsalltag nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Um diese als störend empfundenen Gefühle in den Griff zu bekommen, bemühen wir uns gewöhnlich, uns „zusammenzureißen“. Dies ist menschlich und auch verständlich – wer hat schon Lust auf Unsicherheit oder Angst? Diese „Strategie“ hat jedoch ihren Preis! Aus der Psychologie und der Coachingpraxis ist bekannt, dass gerade die Aspekte, die wir ablehnen und leugnen, uns beeinflussen und einschränken können. Es ist wie der Versuch, einen Ball dauerhaft unter Wasser zu drücken. Dadurch lässt sich nur noch mit verminderter Aufmerksamkeit und Kompetenz auf das schauen, was jetzt von uns verlangt wird – schließlich ist man damit beschäftigt, den Ball unter Wasser zu halten. Insofern können uns unangenehme und unerwünschte Gefühle vereinnahmen, selbst oder gerade wenn wir uns bemühen, ihnen wenig Beachtung zu schenken.

Stellen Sie sich vor: In einem Meeting macht eine Kollegin einen unpassenden Kommentar, der Sie vielleicht kränkt oder provoziert. Wo landen Sie dann innerlich? Wie gut können Sie das Meeting – auch wenn Sie es professionell überspielen – noch leiten und mit welchen Ergebnissen verlassen Sie dann das Meeting? Ein anderes Beispiel: Was passiert, wenn ein großes und wichtiges Projekt gefährdet ist und der Projektleiter nicht mehr weiter weiß, unsicher ist, davon überwältigt ist und es trotzdem (vor sich) verbergen will? Wie gut kann er dann das Ruder herumreißen und wie gut gelingt es, in diesem Zustand das Team zu mobilisieren? Wenn der Projektleiter die Unsicherheit nicht „haben will“, verpufft ein Großteil seiner Energie und Aufmerksamkeit in das Leugnen, Abwehren oder Überspielen des Gefühls. Damit geht einher, dass diese Energie und Aufmerksamkeit nicht mehr zur Lösung des Problems und zur Führung des Projektteams zur Verfügung stehen. Das potenziell vorhandene Handlungsspektrum wird so eingeschränkt. Ähnlich verhält es sich in der Interaktion mit anderen Menschen beziehungsweise den Teammitgliedern. Der berühmte Autopilot, der Tunnelblick oder aber eine Welle, die uns quasi erschlägt und mitreißt sind Bilder, die solche Vorgänge treffend beschreiben. Manchmal jedoch heißt es dann „Es hat mich“ oder wir reagieren aus diesem Gefühl heraus und am Tag danach bereuen wir es oder würden zumindest anders handeln als im Affekt.

Die genannten Beispiele sollen verdeutlichen, welche Wirkung es haben kann, wenn wir nicht surfen, sondern störende und unliebsame Gefühle ausschließen, bekämpfen oder nicht haben wollen. Die möglichen Auswirkungen davon sind nochmals auf den Punkt gebracht:

  • Die Wahrnehmung ist auf den Tunnel gerichtet und weitere Aspekte, Menschen und Lösungen außerhalb des Tunnels sind kaum sichtbar, was dazu führt, dass die Situation so nicht mehr in der Gesamtheit betrachtet werden kann.
  • Die Handlungsfähigkeit reduziert sich auf den Bereich an Möglichkeiten, der im Tunnel liegt.
  • Das eigene Wohlbefinden verschlechtert sich (z. B. Körperspannung, Atmung).
  • Der Kontakt zu anderen verändert sich und dadurch werden die Interaktionsfähigkeit und die Lösungsfindung mit anderen Menschen nachteilig beeinflusst.
Wie gut können Sie auf Ihr volles Handlungsspektrum zurückgreifen, wenn Sie aus Ihrer Mitte geraten? Wie verlaufen dann Ihre Entscheidungen oder die Interaktion mit anderen?

Tragen Sie hier Ihre Gedanken ein:

 

 

 

 

 

Welche typischen Ereignisse/Kommentare/ Menschen/Situationen haben die Kraft, Sie aus der Mitte zu bringen?

Tragen Sie hier Ihre Gedanken ein:

 

 

 

 

 

Emotionskompetenz trägt hingegen dazu bei, dass wir in herausfordernden Situationen zurück in eine präsente Haltung gelangen und dadurch den erforderlichen Überblick bewahren und auf unser ganzes Handlungsrepertoire zurückgreifen können. Wenn wir lernen, auf den unliebsamen Gefühlen sprichwörtlich zu „surfen“, verlieren sie einen Teil ihrer vereinnahmenden Kraft. Das trägt dazu bei, …

  • ruhiger und gelassener mit Stress und Druck umzugehen.
  • öfters und besser auf das eigene Potenzial und die eigene Handlungsfähigkeit zurückgreifen zu können.
  • sich in der Konfrontation mit anderen oder in hektischen Situationen nicht zu „verrennen“.
  • Probleme und Herausforderungen weniger punktuell und mehr ganzheitlich zu betrachten.
  • die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden zu erhalten.
  • authentisch und präsent zu bleiben.

Noch ein abschließender Hinweis: Wir können den Wechsel unserer Zustände – also mal mehr und mal weniger in unserer Mitte zu sein – nicht ausschalten. Emotionskompetenz zielt darauf ab, den Wechsel beziehungsweise das Verlieren der Mitte besser zu erkennen und (etwas) schneller als bisher wieder zurück zu unserer Mitte und damit zurück zu unserem vollen Handlungsspektrum zu kommen. Unsere Gefühle und Emotionen und vor allem unser Umgang damit nehmen dafür eine besondere Rolle ein. Das mag mit traditionellen Rollenbildern brechen, gelten Gefühle in einer professionellen Unternehmenswelt mitunter eher als störend oder deplatziert. Ganz im Gegenteil: Der bewusste Umgang mit unseren Gefühlen hilft uns, mehr Präsenz und Handlungsfähigkeit im Alltag – vor allem wenn es mal „eng“ wird – zu bewahren. Oder letztlich, wirklich professionell damit umzugehen.

Wie kann ich Emotionskompetenz entwickeln?

Emotionskompetenz zielt auch nicht darauf ab, die Gefühle abzustellen oder sie „wegzumachen“ – das versuchen wir ja in der Regel mit den genannten Folgen. Es ist also von großer Bedeutung, zu verstehen, dass die Gefühle und Zustände nicht falsch oder schlecht sind, auch wenn es verständlicherweise so empfunden werden kann. Der springende Punkt ist, wie wir damit umgehen! Daraus folgt, dass man sich selbst und den Gefühlen, Emotionen oder Zuständen freundlich und verständnisvoll begegnet. Der Umgang mit diesem Paradox – dem, was man nicht haben will, freundlich zu begegnen – ist einerseits eine große Herausforderung und andererseits befindet sich darin bereits ein zentraler Schlüssel zur Entwicklung von Emotionskompetenz.

Diese Grundhaltung, sich selbst und seinen Emotionen gegenüber, stellt somit die Eintrittskarte für diese Kompetenz dar. Im Folgenden soll schematisch gezeigt werden, wie ein lösender Umgang mit diesen natürlichen Vorgängen gefunden werden kann, um uns den Alltag – auch „wenn es mal eng wird“ – zu erleichtern. Dafür sollen hier zwei Möglichkeiten gezeigt werden:

  • Es gibt einen nachhaltigen Weg, der darauf abzielt, das „störende“ Gefühl zu integrieren. Dieser Weg führt im Idealfall auch dazu, dass das störende Gefühl weniger stark als bisher wirkt und uns so in künftigen Situationen weniger aus unserer Mitte bringen kann. Jedoch ist hier die Bereitschaft unerlässlich, sich mit dem „Unangenehmen“ auseinanderzusetzen.
  • Die zweite Möglichkeit beschreibt eine Technik, die wir jederzeit und beinahe überall anwenden können, um unmittelbar und zumindest in die Nähe unserer Mitte zurückzukommen. Jedoch kann die Wirkung der Technik ebenso schnell vorübergehen, wie sie eingetreten ist.

Der erste Weg ist in den folgenden drei Schritten schematisch dargestellt. Die Technik wird im Anschluss beschrieben.

Erkennen, dass wir die Mitte verloren haben

Der Alltag steckt voller Einladungen, unsere Mitte zu verlassen: Der Anruf eines Kunden, die Mail von der Führungskraft, eine falsche Geste zur falschen Zeit, der drängende Abgabetermin einer Leistung, ein Konflikt, eine falsch angebrachte Kritik, ein abweichendes Verhalten von anderen und vieles mehr können gegebenenfalls schon ausreichen, um aus unserer Mitte geworfen zu werden. Dies mag mitunter schlagartig und sofort wahrnehmbar sein, manchmal aber auch unmerklich und leise geschehen. Daher hilft eine gewisse Achtsamkeit, um uns dieser Einladungen und unserer Reaktionen auf diese gewahr zu werden.

Welche Wirkung haben Ihre Gefühle auf Ihr Handeln und Ihre Möglichkeiten?

Tragen Sie hier Ihre Gedanken ein:

 

 

 

 

 

Unser hektischer und leistungsorientierter Alltag steht dem jedoch oftmals im Wege. Wir eilen zum nächsten Termin, zum nächsten Gedanken, zur nächsten Aufgabe und können uns – beziehungsweise den Kontakt zu uns – dabei unter Umständen buchstäblich „verlieren“. Damit ist gemeint, dass im Stress und ebenso in hoher Konzentration unsere Spürfähigkeit verringert ist. Wenn wir beispielsweise einen Faden durchs Nadelöhr führen, nehmen wir nicht mehr viel von unserer Umwelt und unseren eigenen Empfindungen wahr – die Welt besteht dann nur noch aus dem Faden und dem Nadelöhr. Mit verringertem Kontakt zu uns selbst und der geringeren Spürfähigkeit kann es jedoch schwerfallen, überhaupt zu bemerken, dass wir unsere Mitte verloren haben. So können wir unsicher oder wütend sein und aus diesem Gefühl längere Zeit heraus handeln, entscheiden und kommunizieren, ohne zu merken, dass unsere Handlungen und Beurteilungen durch dieses Gefühl „gefärbt“ oder beeinflusst sind.

Diese Bedingungen führen dazu, dass es gegebenenfalls etwas Übung braucht, um überhaupt wahrzunehmen, dass wir unsere Mitte verloren haben – oder ob wir gerade einen Ball unter Wasser drücken. Wie kann es dann im hektischen Alltag gelingen, dies früher als bisher zu erkennen?

Um zu erkennen, in welchem Zustand wir sind, können wir bewusst kleine Boxenstopps einlegen, sprichwörtlich innehalten und mit uns Kontakt aufnehmen. Diese Pause ist wesentlich, da wir ansonsten nur schwer Kontakt mit unseren Empfindungen bekommen. In solch einem Moment der Entspannung beziehungsweise unter reduzierter Konzentration können wir bewusst auf unser Wohlbefinden und auf die eigenen Körperempfindungen achten. Wir suchen sozusagen, auf Basis unseres Wissens über unseren entspannten „Normalzustand“, nach Abweichungen: Gibt es Spannungen im Körper – vielleicht im Unterbauch, im Nackenbereich, im Gesäß usw.? Wie ist der Atem – flach und kaum vorhanden oder tief und gesättigt? Sind wir in Gedanken bereits drei Schritte weiter als bei der aktuellen Handlung oder sind wir mit unserer Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt? Wie ist das eigene Altersempfinden – wie ein Greis, wie ein Kind oder dem tatsächlichen Alter entsprechend? Wie bewerte ich meine Mitmenschen – wohlgesonnen oder misstrauisch? Wie bewerte ich mich selbst? Gibt es Abweichungen zu meinen gewohnten Bewertungen? Reagiert meine Umwelt anders als gewohnt? Fällt es leicht, Kontakt zu anderen herzustellen oder zu halten? Befinde ich mich im Tunnelblick? Diese und ähnliche Fragen können uns helfen, gewahr zu werden und zu prüfen, ob wir in unserer Kompetenz und unserem Potenzial sind. Wenn dies gelingt, ist bereits viel gewonnen.

Erforschen und wahrnehmen

Hier ist weiter nichts zu tun, als wahrzunehmen, was ist – also unsere Gefühle und unsere Bewertungen dieser. Im zweiten Schritt geht es darum, die inneren Bewegungen und Gefühle wahrzunehmen und ins Bewusstsein zu lassen. Dieser Prozess lässt sich vielleicht mit einem Zuschauer eines Kinofilms verbildlichen. Wir sitzen im Sessel und beobachten. Wir erforschen aufmerksam, was sich im Zusammenhang mit dem unliebsamen Gefühl oder der ganzen Situation zeigt. Das Bild des Zuschauers kann uns dabei unterstützen, dem Ungewollten etwas von seinem möglichen Bedrohungspotenzial zu nehmen. Wir schauen und staunen darüber, was sich uns im Boxenstopp alles zeigt.

Spüren Sie, wann Sie in Ihrer Mitte sind und wann außerhalb davon? Woran erkennen Sie es?

Tragen Sie Ihre Gedanken hier ein:

 

 

 

 

 

Wie oft kann Ihnen dies am Tag, im Monat oder im Jahr passieren?

Tragen Sie Ihre Gedanken hier ein:

 

 

 

 

 

Praktisch kann dies durch innere Sätze wie „Ah, da ist Unsicherheit!“, „Oh, hier ist aber eine ordentliche Ladung Wut und Zorn!“ oder „Da ist Ungeduld!“ geschehen. Das Hier und Jetzt wird sofort etwas verständlicher, wenn wir uns bewusst werden, dass dieses oder jenes Gefühl gerade präsent ist und auf uns sowie die Situation einwirkt. Wir beginnen zu verstehen, dass wir nicht nur einen Ball unter Wasser drücken, sondern wir nehmen Kontakt zu diesem auf und erkunden, wie groß dieser ist und welche Eigenschaften er hat.

Wenn die Gefühle oder Zustände nicht genau benannt werden können, ist es hilfreich, zu erforschen, was sich jetzt auf der körperlichen Ebene zeigt. Auch wenn wir sagen „Ich spüre rein gar nichts!“ können wir immer noch wahrnehmen, welche körperlichen Prozesse sich zeigen: „Ah, ich atme sehr flach!“, „Mein Herz rast wild!“, „Mein Nacken ist hart!“, „Ich fühle mich wie ein Greis!“ Die bewusste Wahrnehmung der Körperempfindungen kann uns in manchen Fällen dann zu dem dahinterliegenden Gefühl führen. Beispiel: „Da ist Herzklopfen!“ Wenn dies wahrgenommen wurde, folgt beispielsweise „Ah, dahinter verbirgt sich eine große Portion Wut!“

Zum Erforschen gehört es auch, wahrzunehmen, welche eigenen Urteile, Bewertungen, inneren Sätze oder auch Widerstände das Gefühl begleiten. Diese schaffen eine Wirklichkeit, indem sie den ablehnenden Umgang mit dem Gefühl meist verstärken. Ein paar Beispiele für mögliche negative Bewertungen: „Unsicherheit ist etwas für Schwächlinge!“, „Wenn hier einer sicher zu sein hat, dann bin ich es!“, „Ich will nicht unsicher sein! Ich will viel lieber sicher und souverän wirken!“ Oder: „Mit meiner Wut kann niemand umgehen!“, „Zu viel Übermut kommt vor dem Fall!“

Wenn oder solange wir nicht in der achtsamen Wahrnehmung geschult sind, fällt es uns erfahrungsgemäß vorerst noch nicht leicht, die manchmal auch recht leisen und sanften Signale, Gefühle und Körperempfindungen überhaupt wahrzunehmen. Meist ist der Kopf samt seiner Aufmerksamkeit schon im nächsten oder übernächsten To-do oder mit was anderem beschäftigt, was die Erforschung erschwert. Hierfür braucht es daher die Bereitschaft und das Interesse an solchen Vorgängen ebenso wie etwas Training. Eine einfache Übung zur Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit wird im Übungsteil am Ende dieser Publikation vorgestellt (vgl. „Da ist …“).

Lösen und zurück zur Mitte durch Annehmen oder Staunen

Nachdem wir bewusst erforscht haben, welche Gefühle, Körperempfindungen und Urteile sich zeigen, ist meist bereits viel gewonnen. Die beteiligten „Protagonisten“ (Gefühle, innere Bilder, Sätze) sind jetzt bekannt und stehen auf der Bühne – wir haben Bewusstheit erlangt. Wir können jedoch noch weiter gehen. Durch das (uneingeschränkte) Annehmen der unliebsamen Gefühle können wir eine tiefgreifende Lösung erzielen.

Fällt es Ihnen generell eher leicht oder schwer mit Ihrer inneren Gefühlslandschaft in Kontakt zu treten?

Tragen Sie Ihre Gedanken hier ein:

 

 

 

 

 

Vorher gilt es, zu verstehen, dass die Gefühle, Eindrücke und Emotionen beziehungsweise auch unsere Bewertungen dieser nicht richtig, aber auch nicht falsch sind. Wir alle kennen Gefühle, Zustände oder Seiten, die wir mehr und andere, die wir weniger mögen. Wenn wir uns in Situationen befinden, die uns aus unserer Mitte ziehen und den dazugehörigen Gefühlen mit Ablehnung oder Abwertung begegnen, lehnen wir damit auch einen (meist unliebsamen) Teil unseres Selbst ab. Dies dient jedoch nicht der Lösung, da dadurch der als störend empfundene Teil weiter ausgeschlossen bleibt. Die Lösung liegt paradoxerweise im Gegenteil, also im Annehmen, im Einschließen beziehungsweise in dem „Dazunehmen“. Dieser Prozess ist von höchster Bedeutung.

Gelingt uns dies, verlieren die Aspekte, die vorher die Macht hatten, uns aus der Mitte zu bringen, ihre Kraft. Bisherige ungünstige Strategien verlieren ihre Bedeutung. Das, was bisher nicht sein durfte (z. B. unsicher sein), darf jetzt sein. Wir müssen unsere Kraft nun nicht mehr dafür einsetzen, immer sicher sein zu müssen (oder so zu tun), sondern dürfen nun beides – mal sicher und auch mal unsicher sein. Wenn dies gelingt, stehen uns wieder die Kräfte zur Verfügung, die wir für das „Nicht-haben-Wollen“ oder das Wegdrücken verwendet haben. Wir lassen dann den Ball los und erlangen wieder mehr Beweglichkeit. Ziel ist es hier, mit den persönlichen Anteilen etwas „vollständiger“ zu werden. Bisher Ausgeschlossenes darf nun (zumindest ein Stück weit) eingeschlossen werden. Das heißt, Kraft, Mitte und Präsenz entstehen, wenn wir kompetent, klug, schön, geschickt, glücklich, aber auch unsicher, schwach, nicht perfekt, wütend, berechnend sein dürfen. Wir können so in unserer menschlichen Vielfalt vollständiger werden. Diese Vollständigkeit führt uns zu unserem vollen Potenzial.

Erleben Sie im Beruf Situationen, wo Sie unangenehmen Gefühlen wie Angst, Unsicherheit, Wut begegnen?

Tragen Sie hier Ihre Gedanken ein:

 

 

 

 

 

Wie gehen Sie mit diesen um, vermeiden Sie diese üblicherweise oder lassen Sie diese eher zu?

Tragen Sie hier Ihre Gedanken ein:

 

 

 

 

 

Das vollständige Annehmen ist die weitreichendste Lösung unliebsamer Gefühle. Dies gelingt am besten, wenn wir diese Schritte nicht nur kognitiv – also gedanklich – vollziehen. Die Wirksamkeit kann vertieft werden, wenn der Umgang mit den Gefühlen zusätzlich auch körperlich vollzogen wird. Dafür ist es hilfreich, das (abgelehnte) Gefühl ein „kleines bisschen“ mehr, als wir es bisher gewohnt sind, zuzulassen. Wenn wir es wollen und es uns zutrauen, können wir es besser „kennenlernen“ und erforschen. Im Anschluss „bejahen“ wir es mit einem tiefen Ausatmen und einem inneren Satz: „Ah, da ist Wut, auch wenn du (Wut) mir suspekt bist, irgendwie gehörst du doch dazu (zu mir).“ Was dazugehören darf, verliert so seine unangenehme Seite.

Für viele andere Fälle können wir – unser Interesse vorausgesetzt – mit etwas Übung und einer gewissen Bereitschaft lernen, Gefühlen und Seiten von uns zu begegnen, die wir unter Umständen nicht so sehr mögen. Das bewusste Anschauen, Annehmen, „Bejahen“ oder auch das Staunen über die sich zeigenden Gefühle ermöglichen es uns dann, mit diesen produktiv zu arbeiten – oder auf ihnen zu surfen.

Hinweis: Natürlich hat dieser Lösungsweg auch seine Grenzen. Unser psychisches System ist komplex und einzigartig. Manchmal können wir das dahinterliegende Gefühl nicht finden, in anderen Fällen kann es uns schlicht „zu groß“ vorkommen und in anderen Fällen wollen wir uns nicht damit auseinandersetzen. Auch daran ist nichts richtig und falsch. Je nach Thema, Gefühl und persönlicher Motivation kann es dann hilfreich sein, sich durch ein professionelles Coaching begleiten zu lassen.

Wahrnehmungstechnik: Lösen und zurück zur Mitte

Der beschriebene Lösungsprozess kann durch die Anwendung einer Wahrnehmungstechnik unterstützt werden, z. B. wenn der anspruchsvolle Schritt des Annehmens der Gefühle nicht oder nur teilweise gelingt. Ebenso kann diese Technik auch ohne den beschriebenen Prozess angewendet werden, beispielsweise in einer akuten Situation. Die Technik kann daher unmittelbar nachdem wir erkannt haben, dass wir unsere Mitte verloren haben, angewendet werden.

Wie bereits erwähnt, kann ein (Groß-)Teil unserer Aufmerksamkeit und unserer Energie durch das unangenehme Gefühl und/oder durch den Versuch, dieses zu ignorieren oder „wegzumachen“, absorbiert werden. Dies kann je nach Thema mal stärker und mal schwächer der Fall sein. Die Metapher des Tunnelblicks veranschaulicht diesen Prozess ebenso gut wie das Bild einer Taschenlampe, die mit engem Lichtkegel nur einen kleinen Bereich des gesamten Bühnenbildes ausleuchtet.

Wenn wir unsere Wahrnehmung mit einer Kamera vergleichen, entspricht der Zustand der verlorenen Mitte (durch ein unangenehmes und abgelehntes Gefühl) dem Kamerafokus auf ein einzelnes Objekt. Die Wahrnehmung verengt sich im Wesentlichen auf dieses eine Objekt und damit auch das persönliche Erleben. Dinge, Menschen, Aspekte und weitere Zusammenhänge außerhalb dieses engen Fokus gehen so verloren beziehungsweise werden sie im Lichte des engen Fokus (z. B. aus der Ungeduld heraus) betrachtet. Das, was in der Nahaufnahme des Fokus liegt, wirkt so noch intensiver. Ein enger, auf ein Objekt oder Gefühl gerichteter Fokus schafft eine andere „Wirklichkeit“ als der Blick auf das gesamte Bühnenbild. Daher richtet sich diese Technik darauf, den Kamerafokus bewusst und willentlich zu weiten, um Stück für Stück ein größeres Bild zu betrachten und um uns von der engen und vielleicht vereinnahmenden Fokussierung zu lösen.

Die projektverantwortliche Person des obigen Beispiels nimmt dafür direkt vor dem Meeting bewusst Kontakt mit den umliegenden Objekten und dem Raum sowie zur Atmung auf (mehr dazu siehe im Übungsteil am Ende dieser Publikation: „Weite Wahrnehmung in Akutsituationen“). Die bewusste Verwendung dieser Technik erleichtert es uns, aus den möglicherweise vereinnahmenden Gefühlen (ein Stück weit) auszusteigen. Diese verlieren so ihre Dominanz zugunsten einer gelösteren Haltung. Wir können mehr Präsenz erlangen. Aus dieser Haltung können wir die anstehenden Aufgaben besser wahrnehmen. Oder in anderen Worten: Das Gefühl und dessen Abwehr erschlagen uns nicht mehr wie eine Welle, die über uns zusammenbricht, sondern wir haben gelernt, auf dieser zu surfen. Zum Trainieren der Technik bietet sich die Übung „Fokussieren und Defokussieren“ im Teil Übungen am Ende dieser Publikation an.

Zusammengefasst beinhaltet Emotionskompetenz, …

  • ein klares Gefühl gegenüber der eigenen Mitte zu haben und zu erkennen, wann wir diese verloren haben.
  • eine freundliche und offene Haltung gegenüber dem gesamten Spektrum unserer Gefühlslandschaft zu wahren.
  • sich im Bedarfsfall daran zu erinnern, dass unser Erleben nicht durch die objektive Wahrheit, sondern durch die Abwehr unerwünschter Zustände geprägt werden kann.
  • die Bereitschaft zu haben, unliebsame Aspekte unseres Selbst freundlich anzunehmen.
  • das Wissen darüber zu erlangen, dass das Verlieren der Mitte und das anschließende Wiedereinnehmen dieser normale und sich abwechselnde Zustände sind.