Die Zukunft wartet nicht - Transformation beginnt am Kopf des Unternehmens

RKW: Bei Intrapreneurship geht es darum, dass Mitarbeitende stärker unternehmerisch denken und handeln. Liebe Frau Lührmann, lohnt es, sich als Unternehmen mit Intrapreneurship zu beschäftigen?

Lena Lührmann: Ich verstehe Innovationen als eine Form der Zukunftssicherung und dafür ist Intrapreneurship für mich „das“ Thema. Ein Unternehmen, das sich zukunftssicher aufstellen möchte, hat oft weder die Kapazitäten noch die Ressourcen, externe Innovationsteams einzukaufen. Es tut also sehr gut daran, damit eigene Mitarbeitende zu betrauen. Die wissen am allerbesten, was in einem Unternehmen gebraucht wird. Oft fehlt nur der Katalysator, der all diese Informationen miteinander verbindet und vielleicht auf eine etwas innovative Art weiterspinnt. Das ist, was ich dann mache.

Was denken Sie, hindert Mitarbeitende daran, einfach loszulegen?

Meiner Erfahrung nach legen Mitarbeitende aus verschiedenen Gründen selten unternehmerisches Denken an den Tag. Wir arbeiten viel mit intrinsischer Motivation. Da merken wir, dass auch in der Persönlichkeit der Menschen mal mehr, mal weniger der Wunsch nach unternehmerischem Denken und Handeln vorhanden ist.

Manchmal können sie nicht. Und manchmal ist die Kultur im Unternehmen dafür nicht ausgelegt. In der Vergangenheit haben sich alte Glaubenssätze und Best Practices durchgesetzt, die es Mitarbeitenden schwer machen, Dinge infrage zu stellen. Menschen müssen unangenehme Fragen stellen und ihre Führungskraft und deren Entscheidungen auch mal hinterfragen dürfen. Sie müssen sagen können, wenn sie Fehler und Gefahren oder Chancen für die Zukunft des Unternehmens sehen. Dafür braucht es eine bestimmte Art von Kultur im Unternehmen und in der Führung sowie ein bestimmtes Mindset.

Wo im Unternehmen setzen Sie mit Ihrer Arbeit an?

Das kann man nicht pauschalisieren. Es muss zum Unternehmen, der Herkunft und den Menschen passen. Unternehmen haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse, Probleme oder Baustellen. Das kann die Umstrukturierung eines Führungsteams sein, der Bedarf nach kreativen, innovativen Ideen, eine Konkurrenzsituation mit asiatischem Wettbewerb oder dergleichen. Am Anfang steht deshalb eine Suche nach dem zugrunde liegenden Problem, weswegen eine akute Baustelle geschlossen werden muss. Der Analyse liegen natürlich Daten, Zahlen und Fakten zugrunde, aber ich verfolge den Ansatz, dass die Menschen in einem Unternehmen ganz genau wissen, was sie brauchen. Deshalb beziehe ich die Informationen für diese Analyse vor allem von den Menschen im Unternehmen selbst.

Der Anfang ist eine Art Innovationsfähigkeitslevel: Einmal im Ist, also wo stehen wir heute? Und einmal im Soll, also wie innovativ müssen wir sein, damit unser Unternehmen zukunftssicher wird? Und nicht jedes Unternehmen braucht Raketenwissenschaft, sondern es braucht so viel an Innovationen und Zukunftssicherung, dass es auch in der Zukunft bestehen kann. Und irgendwo in dieser Differenz aus Soll und Ist ergibt sich der Arbeitsbereich.

Wo man fast immer ansetzen kann, ist am Kopf des Unternehmens. In der Führung liegt sehr viel Potenzial, um Zukunftssicherung zu betreiben. Die Führung muss einen solchen recht unkonventionellen Weg mitgehen wollen. Das Bedürfnis der Angestellten hat sich insofern geändert, dass sie mehr als Mensch gesehen werden wollen. Es braucht also eine authentische Führung, die ihre Mitarbeitenden mehr einbezieht und Motivation begünstigt. Das hat auch viel mit dem Entwickeln von Eigeninitiative, mit Intrapreneurship und dem dazu notwendigen unternehmerischen Mindset zu tun. Das Mindset muss vom Alten befreit werden, um Platz für eine neue und frische Art des Denkens und Handelns zu schaffen. Wir nennen das Mindset-Reset. Ich glaube, diese Veränderung von Führung ist die Antwort auf ziemlich viele Baustellen in Unternehmen. Oft wird darüber gesprochen, was die Menschen im Unternehmen noch machen müssen, aber keiner sagt ihnen, was sie ab jetzt weglassen dürfen. Stattdessen packen viele Unternehmen nur noch mehr oben drauf, wie beispielsweise neue Innovationsmethoden. Deswegen gehe ich immer ein Stück in die Vergangenheit und räume mit dem auf, was heute unternehmerisches und innovatives Denken im Unternehmen verhindern könnte. Ich schaue, wo steht das Unternehmen heute und wo muss es hin, damit es zukunftssicher aufgestellt ist.

Wie wir die Zukunftssicherung im Unternehmen anschließend angehen, kann verschiedene Formen haben. Das können einzelne Mitarbeitende als sogenannte Zukunftsbotschafterinnen und Zukunftsbotschafter oder auch Arbeitsgruppen sein, die als Multiplikatoren für Veränderungen im Unternehmen fungieren. Es gibt auch komplette Innovationsteams, die damit betraut sind, stetig neue Produkte, neue digitale Angebote oder Lösungsgeschäfte zu generieren und auch zu implementieren. Wir haben aber auch schon Unternehmen betreut, denen reichten beispielsweise zwei Ideen-Workshops im Jahr in einer kreativen Umgebung.

Wie finden Sie die Intrapreneurinnen und Intrapreneure beispielsweise für die Innovationsteams?

Ich würde sagen, dass unternehmerisches Denken nicht immer grundsätzlich das Richtige für jede und jeden im Unternehmen ist. Es ist eine individuelle Entscheidung jeder und jedes Einzelnen, ob und wie weit sie oder er sich im Unternehmen einbringen möchte. Führungskräfte bzw. Unternehmerinnen und Unternehmer kommen nicht darum herum, Mitarbeitende wieder mehr als Individuen zu sehen. Deshalb messen wir unter anderem die intrinsische Motivation. Da sprechen wir dann über Gegensätze wie zum Beispiel Vorliebe für Ordnung und Struktur und auf dem entgegengesetzten Ende die absolute Improvisationsfähigkeit. Oder ein sehr idealistischer Mensch, der sich immer eine bessere Welt vorstellen kann und als das Gegenstück ein Realist, der sagt „So wie es heute ist, da können wir darauf bauen“. Und wir schauen, was die Menschen im Unternehmen noch können, was nicht im Lebenslauf steht. Über die intrinsische Motivation kann man ganz hervorragend persönliche Stärken und Schwächen ableiten.

Für die Teams suchen wir nicht Menschen eines bestimmten Schlages, sondern nach Ausgleich. Das Team sollte divers genug sein, um möglichst viele Perspektiven zu beleuchten. Aber jedes Mitglied sollte in der Art sehr einzigartig sein: laut, leise, introvertiert, extrovertiert, das kann man beliebig weiterspinnen.

Dafür verwenden wir auch eine Fragenliste zur Suche nach unterschiedlichen Mitarbeitenden: Etwa, welche Personen fallen Ihnen immer als besonders unbequem auf? Wer stellt immer bohrende Fragen? Auf dieser Liste sind beispielsweise auch Fragen nach bisher vielleicht unterschätzten Personen. Denn wir haben in der Vergangenheit viele Leistungsträgerinnen und Leistungsträger im Innovationsbereich in sehr ruhigen, teilweise introvertierten Mitarbeitenden gefunden, die einen sicheren Rahmen brauchen, um ihre Ideen kundzutun.

So finden wir Menschen mit einzigartigen Perspektiven, die sich dann zu einem sehr performanten Team entwickeln können. Und so unterstützen wir die Menschen und auch die Unternehmen dabei, ihr volles Potenzial zu entfalten.

Wie lernen die Menschen, innovativ zu denken?

Intrapreneurship funktioniert nicht von der Stange. Eine mögliche Vorgehensweise ist, diesem Team einen zeit- und druckbefreiten Raum zur Verfügung zu stellen. Sie bekommen Hubba-Bubba-Kaugummi, machen ein paar Kaugummiblasen und überlegen, was die Zukunftssicherung für ihr Unternehmen als nächsten Schritt gebrauchen könnte. Oder was ihnen schon längst stinkt oder was sie ändern wollen. Dann haben sie Zeit, kreativ herumzuspinnen und kommen so auf viele Ideen. Diesen Punkt vernachlässigen übrigens fast alle Unternehmen. Denn vieles in KMU, was Innovationen und Intrapreneurship anbelangt, geht mit Kreativität und ohne Geld. Aber es geht nie ohne Zeit. Wenn man sich die Zeit nicht nimmt, kaugummikauend herumzuspinnen, was man denn machen könnte, kostet das irgendwann viel Geld. Menschen kosten Geld, verpasste Chancen kosten Geld. Und irgendwann ist der Druck so groß, dass man viel Geld ausgibt, um doch noch möglich zu machen, was man im Vorfeld mit ein bisschen Zeit hätte verhindern können.

Entstehen Ideen, dann werden diese sehr schnell eingeordnet und bewertet. Anschließend werden in einer Evaluierungsphase kleinere Projektteams gebildet. Jedes Team hat die Aufgabe, eine Idee weiterzuentwickeln und ganz vorsichtig rechts und links im Unternehmen zu fragen: Wie seht ihr das? Anschließend beginnt eine sogenannte Minimum-Viable-Product-Phase, in der ein kleinstmögliches überlebensfähiges Produkt entwickelt wird. Dabei verzichten die Projektteams ganz bewusst auf Perfektion, sondern suchen nach einem gemeinsamen Kern. Irgendwann kommt ein bestimmter Fertigstellungsgrad, nach dem entschieden wird, zu welchem Ressort das Projekt gehören und bei wem es aufgehängt werden soll. In der Übergangsphase begleitet das Projektteam die Abteilungen, an die das Projekt abgegeben worden ist, bei der Implementierung.

An jedem Punkt kann die Idee im Licht der gesammelten neuen Erkenntnisse gestoppt werden und das Unternehmen entscheidet, ob es Kapazitäten und Budget investieren möchte oder nicht. Es ist also ein rollierendes System aus Ideen finden, bewerten und entscheiden, ob die Idee es überhaupt wert ist, ins Prototyping zu gehen. Und dann nimmt man sich die nächste vor.

Was sind die Erfolgsfaktoren dieser Teams?

Die Menschen sollen lernen, selbst zu denken, innovativ zu sein und sich selbst zu helfen. Es geht in der Teamarbeit und in dem Prozess nicht darum, Checklisten zu folgen. Die gegensätzlichen Persönlichkeiten zu kombinieren, ist sicherlich für die Teams auch mit Herausforderungen verbunden. In der Zusammenarbeit der Teams sollte der Fokus darauf liegen, dass es kein Richtig und kein Falsch gibt. Auch da sind wir wieder bei intrinsischer Motivation. Die Aufgaben liegen den einen mehr als den anderen. Dann realisieren die Menschen im Team, zusammen sind wir besser, weil wir uns ergänzen. Das steigert die Performance und führt zu einer angstbefreiten Fehlerkultur. Das ist eine gute Basis für Zukunftsarbeit. In dem Zusammenhang habe ich eine wichtige Botschaft, die mir am Herzen liegt: Wenn wir über Zukunftsarbeit und Innovationen reden, dann reden wir davon, ganz vorne mitspielen zu wollen oder zu müssen. Wenn wir uns einen Weg vorstellen und ich nur bereit bin, die Wege zu gehen, die andere schon gegangen sind, also das Gras bereits platt getreten ist, dann werde ich nie vorne sein. Wenn ich aber sage: Ich bin diejenige, die das Gras platt tritt und den Weg für alle ebnet, die hinter mir kommen, dann werde ich mal stolpern. Und dieses Stolpern muss normal werden. Niemand geht einen Weg zum allerersten Mal und macht keine Fehler. Wir sagen immer: Da, wo keiner mehr weiß, wie es geht, da ist vorne.

Intrapreneurship und Transformation müssen von innen heraus getragen und nicht von außen übergestülpt werden.

 

Was möchten Sie unseren Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?

Die Zukunft wartet nicht. Lassen Sie sich darauf ein, dass Zukunftsarbeit und auch strategische Arbeit manchmal weniger braucht als mehr. Kulturwandel ist ein langer Weg. Ich bin deshalb ein Fan von Kontinuität statt Perfektion und denke, Intrapreneurship und Transformation müssen von innen heraus getragen und nicht von außen übergestülpt werden. Wenn sich ein Unternehmen also entscheidet, aktive Zukunftssicherung und -arbeit zu betreiben, dann ist es wichtig, nicht aufzuhören und in kleinen Schritten immer weiterzugehen. Der Weg muss nicht perfekt und die Schritte müssen nicht groß sein. Kontinuität ist der Schlüssel. Denn dadurch entsteht eine Art Dominoeffekt. Wenn die eine Abteilung sich umstrukturiert und auf einmal frischen Wind erfährt, färbt das erfahrungsgemäß auf die anderen ab.

Und das Wichtigste ist eigentlich: Fangen Sie bei sich selbst an. Egal, ob Sie Führungskraft, Mitarbeitende bzw. Mitarbeitender oder Mitglied im Innovationsteam sind, verstehen Sie sich selbst als Teil der Veränderung. Das ist die beste Voraussetzung.

Liebe Frau Lührmann, vielen Dank für die Einblicke in Ihre Arbeit!

 

Interviewpartnerin: Lena Lührmann ist Inhaberin der Unternehmensberatung Visionsalive, Autorin und Expertin für Innovation, Transformation und Zukunftssicherung im Mittelstand. Sie betrachtet Unternehmen systemisch, befreit diese von alten Denkmustern, schafft neue Perspektiven und gestaltet Neuanfänge mit Hands-on-Mentalität. 
Kontakt: hello(at)visionsalive.de

Das Interview führten für das RKW Kompetenzzentrum Katharina von Haugwitz und Alexander Sonntag.

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