Handlungsempfehlungen

In diesem Kapitel werden anhand wesentlicher Erkenntnisse aus der Bevölkerungsund Expertenbefragung konkrete Handlungsfelder beschrieben, in denen gezielt Maßnahmen eingeleitet werden können. Diese Handlungsempfehlungen richten sich vorrangig an politische Institutionen, Wirtschaftsförderungen, Technologieund Gründerzentren, Gründungsnetzwerke sowie Inkubatoren und Akzeleratoren, die das Gründungsgeschehen in Deutschland mitgestalten. Zudem können konkrete Vorschläge zur Unterstützung von Gründungsaktivitäten in Deutschland ebenso auf das Interesse anderer Länder, vor allem innovationsbasierter Länder stoßen. Obwohl es insgesamt schwierig ist, praktikable Lösungen aus einem Land auf das andere zu übertragen, erlaubt dennoch das GEM-Netzwerk einen internationalen Austausch und kann somit Lerneffekte zwischen den beteiligten Ländern anregen.

Gründungsbezogene Ausbildung: Stärkung von Entrepreneurship-Education an Schulen

In diesem Feld sehen die befragten Gründungsexperten den größten Handlungsbedarf, um den Gründungsstandort Deutschland zu stärken. Die Aufnahme eines Schulfaches „Wirtschaft“ in die Lehrpläne aller Bundesländer als eigenständiges Fach – wie beispielsweise in Bayern und Baden-Württemberg umgesetzt – bietet zumindest potenziell die Chance, unternehmerisches Denken bei jungen Menschen zu fördern. Auch die Anwendung offener und problemlösungsorientierter Arbeitsweisen in eigenverantwortlicher Projektarbeit im Rahmen der Ausbildung kann einen unterstützenden Effekt im Hinblick auf das Thema Unternehmertum entfalten. Insbesondere aufgrund der voranschreitenden Digitalisierung müssen potenzielle Gründer – aber auch Mitarbeiter – in der Lage sein, zukunftsfähige Wertangebote und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Dabei benötigen sie den Mut, bekannte Wege zu verlassen, Risiken einzugehen und die Kompetenzen bestehende Musterlösungen zu hinterfragen sowie diese von Grund auf neu zu durchdenken. Dafür ist es hilfreich, wenn junge Menschen früh lernen, durch Ausprobieren und Experimente tragfähige Konzepte zu erarbeiten.

Gründungskultur: Unternehmerisches Denken und Handeln in der Gesellschaft verankern

Die Vermittlung unternehmerischer Denkund Handlungsweisen im Zuge der schulischen Ausbildung hat langfristig das Potenzial in der Gesellschaft ein Prozess des Umdenkens zu initiieren, sodass unternehmerisches Scheitern als Möglichkeit des Lernens aufgefasst und der Mut zur Selbstständigkeit stärker honoriert wird. Laut den Experten sollte eine tolerante und fehlerfreundliche Unternehmerkultur mehr Aufmerksamkeit in Politik, Wirtschaft und Medien erhalten. Ebenso ist in diesem Zusammenhang „eine Kultur der zweiten Chance“ notwendig. Das Scheitern von Gründungen wird gesellschaftlich in den letzten Jahren zunehmend weniger stigmatisiert, dennoch überwiegt in Bezug auf unternehmerisches Scheitern nach wie vor eine negative Einstellung der Bevölkerung in Deutschland (vgl. EFI 2017: 82).

Mehr Unternehmergeist, eine höhere Risikobereitschaft sowie eine fehlerfreundliche Unternehmerkultur erfordern einen langfristigen Entwicklungsprozess und sind nur durch eine Kombination mehrerer langfristig wirkender Maßnahmen herbeizuführen. Neben einer entsprechenden Ausrichtung der schulischen Bildung, schlagen die befragten Experten unter anderem Formate vor, die sowohl den gescheiterten als auch den erfolgreichen Unternehmern die Möglichkeit geben, ihre Erfahrungen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Auch die einfachere Vergabe von Aufträgen an junge Unternehmen von Seiten öffentlicher Einrichtungen bieten Chancen zur Verbesserung einer gründungsorientierten Denkweise. Das Thema Unternehmergeist sollte in der Gesellschaft insgesamt eine stärkere institutionelle Verankerung finden.

Finanzierung: Mehr Wagniskaptal für Gründungen und junge Unternehmen

Das Finanzierungs- und Förderangebot für Gründer und junge Unternehmen wurde in den letzten Jahren in Deutschland stark ausgebaut und professionalisiert. Dennoch sehen die befragten Experten die gegebenen Finanzierungsmöglichkeiten am Gründungsstandort Deutschland als nicht ausreichend an. Auch der häufig komplizierte Zugang wird kritisiert.

Insbesondere die Verfügbarkeit von Wagniskapital für Startups und junge Technologieunternehmen wird bemängelt. Vor diesem Hintergrund sind die Maß- nahmen der Bundesregierung, einen stärkeren Wagniskapitalmarkt für größere Finanzierungsrunden in der Wachstumsphase zu schaffen, ein wichtiger Schritt. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht der im März 2018 verabschiedete Koalitionsvertrag steuerliche Anreize zur Mobilisierung von privatem Wagniskapital vor. Mehr Optimierungspotenzial besteht laut den Experten außerdem in der Ausgestaltung von Rahmenbedingungen für Beteiligungsfinanzierungen, von Business-Angel-Engagements über Venture-Capital-Fonds bis hin zu Private-Equity-Investitionen. Hier sollte das Risiko für die kapitalgebende Seite reduziert werden.

Laut den Experten fehlt es potenziellen Gründern an Wissen und Kenntnis bezüglich der Verfügbarkeit und des Zugangs zu Finanzierungsbzw. Förderangeboten im Gründungsprozess. Daher weisen die befragten Experten darauf hin, die Förderlandschaft übersichtlicher und kundenorientierter zu gestalten. Hier wäre mehr Information und ausdrücklich mehr Transparenz, idealerweise „aus einer Hand“ wünschenswert. In diesem Zusammenhang raten die Experten zum Aufbau mehrerer „One-Stop-Shops“ sowie zur Forcierung spezieller Weiterbildungsangebote im Bereich der Fördermaßnahmen. Auch die gezielte Kombination von Crowdfunding-Methoden mit öffentlichen Fördermitteln könnte zu einer Verbesserung der Finanzierungsmöglichkeiten für Gründer und junge Unternehmen beitragen.

Physische Infrastruktur: schnelles Internet in ländliche Regionen bringen

Unternehmensgründer können in Deutschland generell auf eine sehr gut ausgebaute Infrastruktur zurückgreifen. Aus Sicht der Autoren ist im Besonderen die Forderung der Experten nach einer bundesweit flä- chendeckenden und lückenlosen Versorgung der Unternehmen mit einem symmetrischen Hochgeschwindigkeitsinternet (gleich hohe Downloadund Upload-Bandbreite) ein wichtiger Ansatzpunkt, den Gründungsstandort zu stärken. Dies kann mit dazu beitragen, ländliche Regionen für Gründer attraktiver zu machen und den für junge Unternehmen häufig nicht bezahlbaren Mietund Immobilienpreisen in Ballungsräumen entgegenzuwirken.

Mehr Gründerinnen: Frauen besser an Ingenieurswissenschaften heranführen

In Deutschland gründen deutlich mehr Männer als Frauen (TEA-Quoten 6,6% bzw. 3,9%) ein Unternehmen. Gesellschaftspolitisch besteht ein großes Interesse, diesen „Gender-Bias“ auszugleichen. In den letzten Jahren konnten Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie eingeführt werden (beispielsweise existiert seit dem 01.08.2013 in Deutschland ein flächendeckender Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz). Trotzdem fehlt vielen Familien immer noch eine soziale Infrastruktur mit guten Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, was bei vielen Frauen zu einer Doppelbelastung von Beruf und Familie führen kann. Daher ist der systematische Ausbau von Infrastrukturleistungen (z.B. Ganztagsschulen), die Frauen von ihren familiären Verpflichtungen entlasten, an dieser Stelle aus Sicht der befragten Experten wünschenswert. Zudem sollte das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht nur auf die Rolle der Frau begrenzt werden. Auch das stärkere Engagement von Seiten der Männer ist hier von Bedeutung.

Als weiterer wichtiger Ansatzpunkt gelten spezifische Instrumente zur Unterstützung des Frauenunternehmertums abseits klassischer frauendominierter Branchen. Hier müssen spezifische Maßnahmen an Schulen und Hochschulen ansetzen, um Frauen für MINT-Bildungsbereiche zu gewinnen und dort zu unterstützen. Das Ziel sollte sein, den Frauenanteil bei technischen und ingenieurwissenschaftlichen Berufen zu erhöhen. Die durch das BMWi durchgeführten und geplanten Maßnahmen und Aktivitäten zur Förderung in den MINT-Bereichen gehen, nach der Einschätzung der befragten Experten, in die richtige Richtung. Zudem ist die Initiative „FRAUEN unternehmen“ ein gutes Beispiel dafür, wie man Frauen zur beruflichen Selbständigkeit ermutigen und Mädchen für das Berufsbild „Unternehmerin“ begeistern kann. Hier können weitere wirksame Instrumente die Vermittlung und die mediale Präsenz von weiblichen Vorbildern fördern.

Zahlreiche Beratungsund Fördermöglichkeiten werden von potenziellen Gründerinnen nicht genutzt, weil diese ihnen entweder nicht bekannt sind oder sie sich nicht angesprochen fühlen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit, sich zunächst einmal unverbindlich und kostenlos zu informieren. Online-Angebote oder Existenzgründermessen sind hier geeignete Instrumente. Beim Einstieg in die unternehmerische Selbständigkeit könnten beispielsweise auch spezielle Mentoring-Programme für Frauen hilfreich sein. Hier können erfahrene Unter nehmerinnen ihr Erfahrungswissen an potenzielle Gründerinnen weitergeben. Bereits existierende private und öffentliche Initiativen könnten in diesem Zusammenhang weiter ausgebaut werden.

Die Unternehmensnachfolge als Top-Thema einer alternden Gesellschaft platzieren

Bei Gründungsinteressierten ist die Option der Unternehmensnachfolge als Weg in die Selbständigkeit gut verankert. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Diskussion ist die Bekanntheit dieser Karriereoption im Vergleich zur Möglichkeit der Neugründung noch steigerungsund ausbaufähig. Hier gilt es, von institutioneller Seite das Thema stärker als bisher in die Öffentlichkeit zu tragen. Wenn es um die Herausforderungen der alternden Gesellschaft in Deutschland geht, sollte die Unternehmensnachfolge auf der Handlungsagenda einen festen Platz einnehmen. Ein weiterer Ansatzpunkt besteht darin, das Thema Unternehmensnachfolge inhaltlich stärker bei Entrepreneurship-Education-Angeboten an Schulen und Hochschulen zu verankern und lebendig zu machen. Hier können beispielsweise Formate entwickelt werden, in denen erfolgreiche Unternehmensübergaben von Schülern oder Studierenden analysiert werden. Auch bei Praxisbeispielen in Form von persönlichen Erfahrungsberichten können neben Startup-Gründern auch noch stärker Unternehmensnachfolger eingebunden werden. Bundesweit erfreut sich das Format der „Startup-Safaris“ einer zunehmenden Beliebtheit. Hierbei erhalten die Teilnehmenden innerhalb von einem Tag bei Vor-Ort-Besuchen einen authentischen Einblick in junge Unternehmen und Gründungszentren. Auch bei diesen Besuchsformaten können kürzlich übernommene Bestandsunternehmen zukünftig als Besichtigungsstationen dienen und bewusst in die Programme aufgenommen werden.

Migranten: Hürden im Gründungsprozess abbauen

Aus den Befragungsergebnissen lässt sich in Deutschland eine tendenziell größere Gründungshäufigkeit von Migranten im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung erkennen. Dieses Ergebnis ist insofern bemerkenswert, da die Gruppe der Migranten eine Reihe von zusätzlichen Hürden überwinden muss, um unternehmerisch tätig zu werden. Hierzu gehören neben dem Erlernen der Sprache und der Anpassung an die kulturellen Gegebenheiten, die Erfüllung von formalen Voraussetzungen, die Anerkennung der im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikation und das Aufenthaltsrecht. Hierbei handelt es sich um wichtige Aktionsfelder, die Potenziale zur Verbesserung bieten, um Migranten den Weg in die Selbstständigkeit zu erleichtern.

Die Finanzierung von Gründungsvorhaben stellt für Migranten eine zusätzliche Herausforderung dar. Im Vergleich zu einheimischen Gründern besteht beispielsweise häufig noch keine langjährige Beziehung zu einer Hausbank. Fehlende Sicherheiten können ebenfalls ein Grund sein, die Bereitstellung von Kapital durch Finanzinstitute abzulehnen. In der Kombination mit den o.g. Hürden können Teufelskreise entstehen, z.B. indem die Nichtanerkennung beruflicher Qualifikationen eine Kreditentscheidung negativ beeinflusst. Finanzierungsangebote für Migranten müssen sich somit ein Stück weit von konventionellen Kriterien zur Beurteilung der Finanzierungswürdigkeit von Gründungsvorhaben lösen.

GEM erfasst seit 19 Jahren internationale vergleichbare Daten zu Gründungsaktivitäten und Gründungseinstellungen.

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